Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
DFB-Arzt kritisiert Öffnungspläne
Der Sportmediziner Tim Meyer hat das Hygiene-Konzept der Fußball-Bundesliga mit initiiert. Nun legt er einen Plan zum Neustart des Jugend- und Breitensports vor, der dessen Wesen besser gerecht werden soll.
SAARBRÜCKEN Tim Meyer ist in der Pandemie ein gefragter Mann. Einen Namen hatte sich der 53-Jährige indes schon vorher gemacht – als Leiter des Instituts für Sport- und Präventivmedizin an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, mehr wohl aber noch als Arzt der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Meyer entwickelte im vergangenen Jahr federführend das Hygienekonzept für die Deutsche Fußball-Liga und begleitet es seit nun fast zwölf Monaten. Nun hat er ein Konzept geschrieben, mit dem der Wiedereinstieg des Amateur-, Breiten- sowie Kinder- und Jugendsports im Saarland ablaufen kann. Doch die Relevanz des Konzepts geht über Ländergrenzen hinweg, denn in den Eckpunkten seines Konzepts bricht Meyer mit bisherigen Überlegungen.
So fußt sein Konzept unter anderem darauf, sich beim Neustart von den Inzidenzwerten als Ausgangspunkt zu lösen? Meyer sagt: „Mit zunehmender Immunität in der Bevölkerung, zum Beispiel durch die Impfungen, aber auch als Folge von durchgemachten Corona-Infektionen, verliert der Inzidenzwert an Aussagekraft. Zudem kann es ausgesprochen hinderlich sein, diesen Wert für jeden kleinen Schritt zu Rate zu ziehen, weil dann ein ständiges Hin und Zurück entstehen kann, was erlaubt ist und was nicht.“
Zudem löst sich der Sportmediziner vom in den Rechtsverordnungen genutzten Begriff des „Kontaktsports“. „Dieser Begriff wurde in einem komplett anderen Zusammenhang entwickelt. Das ist nicht sachgerecht, wenn man die Gefährlichkeit von Sportarten für die Virusübertragung charakterisieren möchte.“Er nutzt stattdessen zwei andere Kriterien: „Das erste ist ganz einfach und wahrscheinlich auch konsensfähig: drinnen oder draußen. Klar ist dabei schon: Draußen ist günstiger als drinnen. Das zweite Kriterium ist komplizierter und vermutlich eher zu diskutieren. Am ehesten passt der Begriff der ,Nähe'.“Das habe er deswegen gemacht, weil diese klassische Einteilung in die Kontaktsportarten nicht zielführend sei. Der Begriff „Kontaktsportart“sei ja nicht wegen Corona eingeführt worden, sondern weil man in der Sportwissenschaft die Sportarten
irgendwie habe klassifizieren wollen. „Jetzt wurde dieses alte Konzept genommen, obwohl es gar nicht tauglich ist, und stülpt es diesen Sportarten über. Das sollte man nicht tun.“
Und wie teilt Meyer die Sportarten dann ein? „In der ersten Kategorie sind die Sportarten, die draußen stattfinden ohne Nähe – am günstigsten. Am ungünstigsten sind Sportarten drinnen, die mit Nähe stattfinden. Und in der Mitte haben wir gemeinsam die Sportarten, die entweder draußen stattfinden und bei denen eine gewisse Nähe entsteht, oder diejenigen, die drinnen stattfinden ohne Nähe der Sporttreibenden“, sagt er. Das bedeutet ganz konkret: „Die Sportarten der ersten Kategorie – draußen und ohne Nähe – können meiner Meinung nach sofort wieder in den Trainingsbetrieb gehen.“Die ungünstige Variante – drinnen mit Nähe – könne dagegen nur mit einem vorgeschalteten Testkonzept wieder starten. „Die mittlere hat die Wahl: Entweder liefern die Sportarten Konzepte, wie sie trainieren können mit organisatorischen Auflagen, zum Beispiel Abstände. Oder, wenn das für sie nicht praktikabel ist, sie machen auch ein Testkonzept.“
Auch bei diesem Konzept stellt sich die Frage: Wie sieht es hier mit der Perspektive aus, mit der Planbarkeit? Meyer sagt: „Wenn das Ganze über einen Zeitraum von drei oder vier Wochen gut gelaufen ist, dann kann man quasi in die nächsthöhere Kategorie aufsteigen. Für die Kategorie „draußen und keine Nähe“würde das bedeuten, dass Wettkämpfe beginnen könnten. Für die anderen beiden käme dann entsprechend die jeweils höhere Kategorie in Frage.“Es sei auch der Gedanke dabei gewesen, alles möglichst simpel zu halten. Zweiergruppen, Abstand von zwei Metern, Abstand von fünf Metern – solche Regelungen sollten vermieden werden. „Die sind wenig sportgerecht und wirken, als hätte man die Verhältnisse in einem Supermarkt auf den Sport heruntergebrochen.“
Ein Grund, warum das Konzept entstand, liegt in den bislang aus Meyers Sicht sehr sportfernen und bürokratisch wirkenden Regelungen. „Ich kann da die Sportarten und ihre Eigenarten nicht wirklich wiedererkennen, sondern sehe da eher, dass einfach das Dezimalsystem bemüht wurde. Mal fünf Sportler, mal zehn, mal 15, mal 20. Das ist willkürlich und orientiert sich nicht an den Realitäten des Sports.“
Zentraler Teil in Meyers Überlegungen ist die vollumfängliche Öffnung des Sportbetriebs für Kinder und Jugendliche. „Wir haben uns von dem Gedanken leiten lassen, dass das, was die Regierung für ausreichend hält in Kindergärten und Schulen, auch ausreichend sein sollte für den Sport“, sagt Meyer. Das hieße also: Wenn zwei Tests pro Woche in der Schule stattfänden, und er lese, dass das einige Schüler nicht annehmen, wahrscheinlich auch weil sie bei einem positiven Test Angst vor einer Quarantäne haben – „dann mutmaße ich mal, dass die Bereitschaft, sich testen zu lassen, erheblich steigt, wenn die Tests auch für den Sport gebraucht werden können.“Was allerdings gelöst werden müsse – und das könne er nicht, das könne nur die Politik: „Die Testergebnisse müssen irgendwie ordentlich dokumentiert werden. Es kann ja nicht sein, dass der Schüler abends in seinen Verein kommt und sagt: Hallo, heute morgen war ich negativ, und alle müssen es glauben. Diesen Punkt muss man irgendwie lösen. Aber das Problem besteht ohnehin – nicht nur für den Sport. Wenn der Schüler abends ins Kino gehen würde, müsste er ja auch belegen, dass er negativ getestet worden ist.“