Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
„Bei aller Not, wir haben gehofft“
Mit ihrem Gedicht bei der Amtseinführiung von Joe Biden hat die junge amerikanische Dichterin und Feministin Amanda Gorman weltweit für Aufsehen gesorgt. Nun gibt es die Verse in deutscher Übersetzung zu lesen.
DÜSSELDORF Inzwischen wird sie schon als Rockstar der Lyrik bezeichnet, ein Star nur mit Gedichten. Das hat es seit den 1950er-Jahren nicht mehr so richtig gegeben, als damals die sogenannten Beat-Autoren wie Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William S. Burroughs für mächtig Aufsehen sorgten und die Dichtkunst aus dem Schattendasein ins grelle Tageslicht rückten. Genau dort steht spätestens seit Januar auch Amanda Gorman. Die halbe Welt hatte sie vor Augen, als sie am 20. Januar zur Amtseinführung von Joe Biden das Inaugurationsgedicht vorlas und sprach und verkündete: „The Hill We Climb“– den Hügel hinauf. 22 Jahre alt war sie und damit die jüngste Dichterin, der eine solche Ehre zuteil wurde.
Sich selbst hatte Gorman in dem Poem ebenfalls beschrieben: als „ein kleines, dünnes Schwarzes Mädchen, Nachfahrin von Sklavinnen, Kind einer alleinerziehenden Mutter“. Ihr Auftritt war ein Bekenntnis, und das begann schon mit ihrer Kleidung, also mit dem gelben Mantel der feministischen Designerin Miuccia Prada und dem Fingerring mit einem Vogel im Käfig, der ein Geschenk von Oprah Winfrey ist. Die legendäre US-Talkmasterin hat auch das Vorwort zum Gedicht geschrieben, das nun als kleines Büchlein in deutscher Übersetzung vorliegt und in dem sie nicht nur die Macht der Poesie beschwört, sondern fast schon messianisch bekennt: „Auf sie haben wir gewartet.“
Es gibt viele Geschichten rund um dieses Poem zu erzählen, wobei die Inauguration die älteste und die Debatte um die Übersetzerinnen eine der jüngsten ist. Nach dem großen und weltbewegenden Auftritt (was nicht übertrieben ist) wurden die Übersetzungsrechte in Windeseile in zahlreiche Länder verkauft – und damit begann der Streit. Die Frage war: Dürfen, vor allem: können weiße Europäerinnen Verse einer schwarzen Feministin angemessen übersetzen? In den Niederlanden lehnte Marieke Lucas Rijneveld den Übersetzungsauftrag ab, nachdem sie Kritik an ihrer Herkunft ereilte. Überall bemühte man sich, dem Gedicht und seinen Ursprüngen gerecht zu werden. In Schweden wurde etwa ein schwarzer Rapper beauftragt, in Frankreich eine schwarze Sängerin. Und der deutsche Verlag Hoffmann & Campe übertrug die Arbeit gleich an ein Team mit der Lyrikübersetzerin Uda Strätling, der muslimischen Autorin Kübra Gümüsay und der Politologin Hadija Haruna-Oelker.
Das Ergebnis lässt drei Handschriften zum Glück nicht erkennen.
Der Stil bleibt glasklar wie das Original, die Botschaft direkt und die Sprache bei aller poetischen Kraft einfach. Dass man das Gormans Gedicht mit einer Gospelpredigt vergleicht, ist nicht so verkehrt. Spannend ist, dass der Ton weiterhin fließt und man versucht sein kann, selbst mehr oder weniger feierlich zu deklamieren, was Amanda Gorman damals sprach. Dass es an wenigen Stellen auch ein wenig rumpelt und der Rhythmus aus dem Tritt kommt, ist das beste Mittel gegen gepflegte poetische Langeweile. Ein bisschen Stolpern erhöht seit jeher die Aufmerksamkeit beim Gehen.
Und das ist gut und wichtig. Denn das Gedicht, so einfach und verständlich es beim schnellen Lesen erscheinen mag, steckt voller Anspielungen. Es scheint sprachlich die halbe Geschichte des Landes aufzusaugen. So ist mit dem „Hill“nicht allein das „Capitol als Sitz der Legislative und somit Zentrum der amerikanischen Demokratie“gemeint. Worüber uns ein Anmerkungsteil aufklärt, der gemessen am überschaubaren Gedicht doch üppig ist. Danach ist der Hügel eine auch biblische Bergmetapher und der im Titel prophezeite Aufstieg etwas viel Größeres als nur ein neues Regierungs- oder Wirtschaftsprogramm.
„Den Hügel hinauf“spielt auf Reden von Ex-Präsident Barack Obama an und dem Bürgerrechtler Martin Luther King, es gibt neben biblischen auch literarische Bezüge; es greift manchmal zum hohen, fast schon pathetischen Ton, und gibt sich gelegentlich salopp und bodenständig: „Sicher, es läuft längst nicht so prächtig, längst nicht perfekt“, heißt es. Und solche Ansprachen sind dann eingebettet in Verse, die das Zeug haben, Aphorismen zu werden und künftig auch unabhängig vom Gedicht, für sich selbst stehen zu können: „Lass die Welt wenigstens dies bezeugen: Bei allem Gram, wir sind gewachsen. Bei aller Not, wir haben gehofft. Bei aller Ermüdung, wir haben uns bemüht.“
Es klingt an einigen Stellen schwer nach einer Hymne, und das Erstaunliche ist, dass es dennoch nie kitschig wirkt. Haben wir sogenannte Anlassgedichte nicht immer gleich und gerne in die Schublade „Gut gemeint“gesteckt? Gormans Verse haben eine längere Haltbarkeit; nicht zuletzt deshalb, weil uns die Dichterin nicht aus dem Blick geraten kann – mit ihrem politischen Anliegen und ihrem poetischen Willen, die Welt so zu verwandeln, wie sie sein könnte, und nicht zu verschweigen, wie sie noch immer ist.
Vieles an Amanda Gorman strahlt tiefe Überzeugung aus, eine Selbstgewissheit und ein authentisches Auftreten, das so wenig als Attitüde daherkommt. Dazu gehört dann auch ein anderes Bekenntnis, in dem schon im Poem mutig die dichterische Rede ist: nämlich jenes von dem dünnen, schwarzen Mädchen, das „davon träumen kann, Präsidentin zu werden“. Im Jahr 2036 soll es so weit sein, erklärte Amanda Gorman. Dann wäre ihr Auftritt bei der Inauguration gewissermaßen nur der Prolog einer anderen, großen Erzählung.