Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Durchgangsstation Sehnsucht
Corona, es reicht! Wer wünscht sich nicht das Ende der Pandemie herbei? Trotz allen Elends – irgendwann werden wir wieder freier leben. Und hoffentlich auch ein wenig gelassener. Gedanken eines ausnahmsweise zuversichtlichen Skeptikers.
MÖNCHENGLADBACH Ostern endet die Fastenzeit! Vorbei ist's mit Darben und Verzicht! Juchhu? Irgendwie nicht. In einer Zeit, in der die Infektionszahlen auch in Mönchengladbach wieder merklich steigen, fällt erlöstes Aufatmen schwer – schon der Maske wegen. Wer Zorro-Filme kennt, weiß: Es reicht schon eine schwarze Augenbinde, um die Identität eines Menschen zu verschleiern. Durch die Mini-Windeln Marke FFP2 vor Mund, Nase, Kinn verlieren wir mehr als der schwarzmaskierte Degenschwinger aus Hollywood: das halbe Gesicht. Aus vielen Begegnungen ist das Lächeln verschwunden. Und ja, auch das: Die Schönheit eines Antlitzes, die wir früher gerne mal an einer unbekannten Holden bei einer flüchtigen Begegnung auf der Straße oder in einem Café genossen haben, auch sie macht sich rar. Zumal entspanntes Schlendern in der Menge und ein Abstecher in ein Café auf dem Alten Markt ausfallen.
Und das sind nicht einmal die größten Probleme. Mit dem Wissen zu leben, dass das Virus jeden erwischen kann, dass es schwere Schäden anrichten und schlimmstenfalls sogar tödlich sein kann, drückt aufs Gemüt. Erst recht, wenn man chronisch krank und besonders gefährdet ist und trotzdem seit Monaten auf eine Impfung warten muss. Oder wenn man liebe Menschen in seinem Umfeld hat, um die man sich aus solchen Gründen Sorgen macht. Ganz zu schweigen von der Trauer, die Freunde und Angehörige von mehr als 200 Menschen spüren, die in dieser Stadt im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben sind.
Die Kirchen waren immerhin so einsichtig, ihren Gläubigen eine Fastenzeit von nur 40 Tagen aufzuerlegen. Die Pandemie ist gnadenlos: Sie verlangt Verzicht nun schon seit mehr als einem Jahr – Ende offen. Spontaner Aufschrei: Das hält doch kein Mensch aus! Es muss doch mal Schluss sein mit Maske und Gesichtsverlust! Es muss doch endlich mal der Verzichts-Verlust kommen!
Kaum haben wir uns diese Sehnsuchts-Schreie von der Seele geschrieben, wispert eine Stimme im Hinterkopf: „Nu mach' mal halblang, Alter!“Denn so schwer die Lage seit vielen Monaten auch ist, so wenig wir abzusehen vermögen, wann wir endlich wieder freier atmen und leben können: Frühere Generationen haben noch Ärgeres bewältigen müssen.
Wir wollen gar nicht von den Pestepidemien reden, die im Mittelalter mitunter mehr als die Hälfte der Einwohner eine Stadt ausrotteten. Reden wir nur von den Folgen des Zweiten Weltkriegs. Unzählige haben darin Vater, Bruder, Ehemann verloren. Zigtausende Mönchengladbacher fürchteten in Kellern und Bunkern um ihr Leben, während ringsum Bomben fielen. Und als es endlich vorbei war, standen sie in einer zertrümmerten Stadt, ohne Obdach, ohne Nahrung, ohne Besitz.
Inwieweit das als gerechte Kollektivstrafe dafür betrachtet werden kann, dass Deutschland diesen Krieg begonnen und Millionen Menschen in Konzentrationslagern ermordet hatte, sei an dieser Stelle mal dahingestellt. Klar ist jedenfalls: In den Kellern und Bunkern zitterten auch Kinder, die mit Sicherheit keine Schuld hatten – und die auch noch einige Jahre nach dem Krieg unter äußerst schwierigen Bedingungen aufwuchsen. Es ist die Generation der zwischen 1930 und 1945 Geborenen – die Generation, die heute von der Pandemie besonders bedroht ist. Aber: Auch sie hat ein besseres Leben nach der Katastrophe erlebt – und seit den „Wirtschaftswunder“-Jahren ein zumindest materiell besseres als das ihrer Vorfahren.
Sich das vor Augen zu führen, ist kein billiges Relativieren, sofern man daraus Mut und Hoffnung zu schöpfen versucht. Der Mensch hält oft mehr aus, als er denkt. Das muss er zumindest versuchen, wie sollte er sonst weiterleben? Das Virus wird womöglich nie ganz ausgerottet. Aber wir werden Wege finden, es einzudämmen und damit umzugehen. Das schreibt hier ein Mensch, dem Skepsis und nicht Optimismus in die Wiege gelegt wurde.
Darum schreibt dieser Mensch jetzt auch: Diese Pandemie wird nicht spur- und folgenlos bleiben, sie wird Wunden und Narben auf Seelen hinterlassen. Diese sollten wir nicht unreflektiert in uns begraben wie unsere Vorfahren die Kriegs-Trümmer unter dem Rheydter Müllberg oder viele Eltern und Großeltern ihre Kriegserinnerungen in einem Winkel ihrer Seelen.
Im Gegenteil. Wenn wir uns mit den Erfahrungen in der Zeit der Seuche beschäftigen und sie in unsere Biografien einordnen, kann für die Zeit nach der akuten Bedrohung etwas zu gewinnen sein: eine gesündere Austarierung der Gewichte in unseren Seelenhaushalt. Wenn es uns gelänge, mit vielen Alltagsproblemen etwas gelassener umzugehen, hätte Corona wenigstens einen einzigen brauchbaren Effekt.
Vor meinem Haus ist immer noch keine Tempo-30-Zone und kein Anwohnerparken? Auf die Barrikade! Mein impertinenter Nachbar hat einen Baum gepflanzt, der irgendwann mal meinen Gartenteich unter Laub begraben wird? Auf zum Kadi! Das Finanzamt hat meinen erhofften Steuerabzug nicht gewährt? Sauerei! Mein Steuerberater kann sich auch schon mal warm anziehen... Wirklich? Vielleicht atmen wir – da wir es wieder können – erst einmal tief durch und sehen dem Nachbarn in einem Gespräch ins Gesicht. Könnte nicht nur Anwaltskosten sparen, sondern auch Nerven.
Kein Missverständnis, bitte: Es darf auch künftig nicht darum gehen, Probleme und Interessenkonflikte unter den Tisch zu kehren. Ein bisschen mehr Sinn für Verhältnismäßigkeit und einen konzilianteren Tonfall beim Austragen eines Konflikts wäre aber mitunter ein Gewinn an Lebensqualität. Denn wenn wir eines in den vergangenen Monaten gelernt haben: Es kann immer noch schlimmer kommen.