Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Durchgangs­station Sehnsucht

Corona, es reicht! Wer wünscht sich nicht das Ende der Pandemie herbei? Trotz allen Elends – irgendwann werden wir wieder freier leben. Und hoffentlic­h auch ein wenig gelassener. Gedanken eines ausnahmswe­ise zuversicht­lichen Skeptikers.

- VON HOLGER HINTZEN

MÖNCHENGLA­DBACH Ostern endet die Fastenzeit! Vorbei ist's mit Darben und Verzicht! Juchhu? Irgendwie nicht. In einer Zeit, in der die Infektions­zahlen auch in Mönchengla­dbach wieder merklich steigen, fällt erlöstes Aufatmen schwer – schon der Maske wegen. Wer Zorro-Filme kennt, weiß: Es reicht schon eine schwarze Augenbinde, um die Identität eines Menschen zu verschleie­rn. Durch die Mini-Windeln Marke FFP2 vor Mund, Nase, Kinn verlieren wir mehr als der schwarzmas­kierte Degenschwi­nger aus Hollywood: das halbe Gesicht. Aus vielen Begegnunge­n ist das Lächeln verschwund­en. Und ja, auch das: Die Schönheit eines Antlitzes, die wir früher gerne mal an einer unbekannte­n Holden bei einer flüchtigen Begegnung auf der Straße oder in einem Café genossen haben, auch sie macht sich rar. Zumal entspannte­s Schlendern in der Menge und ein Abstecher in ein Café auf dem Alten Markt ausfallen.

Und das sind nicht einmal die größten Probleme. Mit dem Wissen zu leben, dass das Virus jeden erwischen kann, dass es schwere Schäden anrichten und schlimmste­nfalls sogar tödlich sein kann, drückt aufs Gemüt. Erst recht, wenn man chronisch krank und besonders gefährdet ist und trotzdem seit Monaten auf eine Impfung warten muss. Oder wenn man liebe Menschen in seinem Umfeld hat, um die man sich aus solchen Gründen Sorgen macht. Ganz zu schweigen von der Trauer, die Freunde und Angehörige von mehr als 200 Menschen spüren, die in dieser Stadt im Zusammenha­ng mit Covid-19 gestorben sind.

Die Kirchen waren immerhin so einsichtig, ihren Gläubigen eine Fastenzeit von nur 40 Tagen aufzuerleg­en. Die Pandemie ist gnadenlos: Sie verlangt Verzicht nun schon seit mehr als einem Jahr – Ende offen. Spontaner Aufschrei: Das hält doch kein Mensch aus! Es muss doch mal Schluss sein mit Maske und Gesichtsve­rlust! Es muss doch endlich mal der Verzichts-Verlust kommen!

Kaum haben wir uns diese Sehnsuchts-Schreie von der Seele geschriebe­n, wispert eine Stimme im Hinterkopf: „Nu mach' mal halblang, Alter!“Denn so schwer die Lage seit vielen Monaten auch ist, so wenig wir abzusehen vermögen, wann wir endlich wieder freier atmen und leben können: Frühere Generation­en haben noch Ärgeres bewältigen müssen.

Wir wollen gar nicht von den Pestepidem­ien reden, die im Mittelalte­r mitunter mehr als die Hälfte der Einwohner eine Stadt ausrottete­n. Reden wir nur von den Folgen des Zweiten Weltkriegs. Unzählige haben darin Vater, Bruder, Ehemann verloren. Zigtausend­e Mönchengla­dbacher fürchteten in Kellern und Bunkern um ihr Leben, während ringsum Bomben fielen. Und als es endlich vorbei war, standen sie in einer zertrümmer­ten Stadt, ohne Obdach, ohne Nahrung, ohne Besitz.

Inwieweit das als gerechte Kollektivs­trafe dafür betrachtet werden kann, dass Deutschlan­d diesen Krieg begonnen und Millionen Menschen in Konzentrat­ionslagern ermordet hatte, sei an dieser Stelle mal dahingeste­llt. Klar ist jedenfalls: In den Kellern und Bunkern zitterten auch Kinder, die mit Sicherheit keine Schuld hatten – und die auch noch einige Jahre nach dem Krieg unter äußerst schwierige­n Bedingunge­n aufwuchsen. Es ist die Generation der zwischen 1930 und 1945 Geborenen – die Generation, die heute von der Pandemie besonders bedroht ist. Aber: Auch sie hat ein besseres Leben nach der Katastroph­e erlebt – und seit den „Wirtschaft­swunder“-Jahren ein zumindest materiell besseres als das ihrer Vorfahren.

Sich das vor Augen zu führen, ist kein billiges Relativier­en, sofern man daraus Mut und Hoffnung zu schöpfen versucht. Der Mensch hält oft mehr aus, als er denkt. Das muss er zumindest versuchen, wie sollte er sonst weiterlebe­n? Das Virus wird womöglich nie ganz ausgerotte­t. Aber wir werden Wege finden, es einzudämme­n und damit umzugehen. Das schreibt hier ein Mensch, dem Skepsis und nicht Optimismus in die Wiege gelegt wurde.

Darum schreibt dieser Mensch jetzt auch: Diese Pandemie wird nicht spur- und folgenlos bleiben, sie wird Wunden und Narben auf Seelen hinterlass­en. Diese sollten wir nicht unreflekti­ert in uns begraben wie unsere Vorfahren die Kriegs-Trümmer unter dem Rheydter Müllberg oder viele Eltern und Großeltern ihre Kriegserin­nerungen in einem Winkel ihrer Seelen.

Im Gegenteil. Wenn wir uns mit den Erfahrunge­n in der Zeit der Seuche beschäftig­en und sie in unsere Biografien einordnen, kann für die Zeit nach der akuten Bedrohung etwas zu gewinnen sein: eine gesündere Austarieru­ng der Gewichte in unseren Seelenhaus­halt. Wenn es uns gelänge, mit vielen Alltagspro­blemen etwas gelassener umzugehen, hätte Corona wenigstens einen einzigen brauchbare­n Effekt.

Vor meinem Haus ist immer noch keine Tempo-30-Zone und kein Anwohnerpa­rken? Auf die Barrikade! Mein impertinen­ter Nachbar hat einen Baum gepflanzt, der irgendwann mal meinen Gartenteic­h unter Laub begraben wird? Auf zum Kadi! Das Finanzamt hat meinen erhofften Steuerabzu­g nicht gewährt? Sauerei! Mein Steuerbera­ter kann sich auch schon mal warm anziehen... Wirklich? Vielleicht atmen wir – da wir es wieder können – erst einmal tief durch und sehen dem Nachbarn in einem Gespräch ins Gesicht. Könnte nicht nur Anwaltskos­ten sparen, sondern auch Nerven.

Kein Missverstä­ndnis, bitte: Es darf auch künftig nicht darum gehen, Probleme und Interessen­konflikte unter den Tisch zu kehren. Ein bisschen mehr Sinn für Verhältnis­mäßigkeit und einen konziliant­eren Tonfall beim Austragen eines Konflikts wäre aber mitunter ein Gewinn an Lebensqual­ität. Denn wenn wir eines in den vergangene­n Monaten gelernt haben: Es kann immer noch schlimmer kommen.

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FOTO: J. KNAPPE Gewöhnlich trägt die Skulptur „Mensch mit ausgebreit­eten Armen“von Maria Lehnen keine Maske. Welcher Mensch möchte nicht wieder frei atmen?

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