Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Mehr Hörspiel als Serie
In „Calls“ergibt sich aus Telefonaten eine Story. Das ist zuerst gewöhnungsbedürftig.
Die umfangreiche Konkurrenz auf dem Serienmarkt bringt stets neue Formate und Erzählansätze hervor. Dabei erweisen sich die Streamingdienste oft als überraschend experimentierfreudig, gehen auch einmal ins Risiko, während viele Filmstudios mit ihren Großproduktionen zunehmend auf Sicherheit spielen. Mit „Calls“bringt AppleTV+ nun eine Serie heraus, in der Regisseur Fede Álvarez („Don't Breathe“) die formale Selbstradikalisierung des Mediums auf die Spitze treibt.
Über neun Folgen, jeweils 13 bis 21 Minuten kurz, werden in Form von Telefongesprächen miteinander vernetzte Geschichten erzählt. Auf der optischen Ebene sind keine Schauspieler und Schauspielerinnen, keine Kulissen, keine Außenaufnahmen zu sehen, sondern bunt oszillierende Grafiken, die an frühzeitliche Bildschirmschoner erinnern und den Puls des Geschehens visualisieren. Gleichzeitig werden die gesprochenen Dialoge in Echtzeit eingeblendet. Äußerst gewöhnungsbedürftig, aber wer sich darauf einlässt, wird spätestens ab der zweiten Folge unwillkürlich in das eigenwillige Erzählformat hineingezogen.
Jedes Telefonat beginnt mit einer alltäglichen Situation, in die dramatische Ereignisse und übernatürliche Phänomene einsickern, deren Realisierung die Betroffenen an den Rand der Verzweiflung manövrieren. Es ist die Zeit selbst, die als verlässliche Orientierung ihren
Dienst verweigert. Da ist ein Mann, der sich nach einem Ehestreit ins Auto setzt und einfach losfährt. Schon nach einer halben Stunde ruft seine verzweifelte Frau an, die behauptet, sie habe ihn seit drei Tagen vergeblich versucht zu erreichen. Kurz danach ist seine Mutter in der Leitung, die glaubwürdig versichert, dass er bereits seit vier Monaten verschwunden ist. Und während Mark an einem Sonntagabend durch die Wüste fährt, rast in den Telefonaten das eigene Leben an ihm vorbei. Nicht besser ergeht es dem Flugpiloten, der durch einen Anruf aus der Zukunft erfährt, dass sein Flugzeug in wenigen Minuten abstürzen wird, oder dem betrunkenen Ehemann, der versehentlich seine Frau erschießt und von dieser aus der Vergangenheit kurz vor dem Schuss angerufen wird.
Es dauert eine Weile, bis man aus den verschiedenen Episoden heraus ein Muster erkennt, das sich zu einem apokalyptischen Szenario entwickelt. Die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft brechen auf, und die Versuche der Betroffenen, das Schicksal abzuwenden, führen in ein noch größeres Verderben.
Orson Welles' Hörspielklassiker „Krieg der Welten“kommt einem beim Anschauen von „Calls“in den Sinn. Natürlich ist die Streaming-Gemeinde des 21. Jahrhunderts abgebrühter. Aber gerade im medial überfütterten Heute entwickelt dieses fernmündliche Video-Hörspiel durch die konzentrierte Reduktion seiner erzählerischen Mittel einen faszinierenden Sog. Die Einstein'sche These, dass die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur eine hartnäckige Illusion sei, wird hier zu einem formidablen Science-Fiction-Stück ausgebaut, das seine Schreckensbilder in die Fantasie des Publikums verlagert.