Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Der Visionär im Weißen Haus

US-Präsident Joe Biden skizziert ambitionie­rte Gesellscha­ftsentwürf­e wie einst Roosevelt mit seinem New Deal in den 30er-Jahren.

- VON FRANK HERRMANN

WASHINGTON Joe Biden ist angetreten, um Amerikas Seele zu retten. Den autoritäre­n Anwandlung­en Donald Trumps, der mit Diktatoren in aller Welt sympathisi­erte und rechtsradi­kale Milizen auffordert­e, sich bereit zu halten, wollte er im Wahlkampf ein klares Bekenntnis zur Demokratie entgegense­tzen. Ansonsten stand Biden für Erfahrung, kleine Schritte, den Verzicht auf riskante Experiment­e. Sein Kalkül: Dass Wähler der Mitte, wenn sie sich denn von Trump abwandten, nur einem Mann der Mitte den Zuschlag geben würden. Nichts würde sich fundamenta­l ändern, falls er im Oval Office sitze, beruhigte er Spender, die sich wegen des Linksrucks bei den Demokraten Sorgen machten. Biden war die Nummer sicher. Kompetent, aber nicht unbedingt ambitionie­rt.

Mittlerwei­le ist klar, dass sich sein Ehrgeiz nicht darauf beschränkt, nach den Turbulenze­n der Trump-Jahre zur alten Ordnung zurückzuke­hren. Vielmehr versucht er, die Chance der Corona-Krise für einen Kurswechse­l zu nutzen. Biden will mehr sein als der Anti-Trump, nämlich auch der Anti-Reagan. Mit Ronald Reagan setzte sich im amerikanis­chen Diskurs die Auffassung durch, dass der Staat nur im Weg stehe und sich so weit wie möglich aus dem Leben der Bürger zurückzuzi­ehen habe. Nun will ausgerechn­et Biden, der es lange Zeit ähnlich sah, die Weichen neu stellen.

Die Wandlung, sie kommt nicht allzu überrasche­nd. Schon im vorigen Sommer – das Rennen um die Kandidatur war gewonnen – sprach Biden vom „revolution­ären institutio­nellen Wandel“, auf den sich Amerika einstellen solle. Schon damals machte er klar, wem er nacheifern würde: Franklin D. Roosevelt. Dem Präsidente­n, der die USA in den 1930ern mit dem New Deal, einem Bündel groß angelegter Staatsprog­ramme, aus dem Tal holte. Dem besiegten Rivalen Bernie Sanders vertraute er an, er wolle „der progressiv­ste Präsident seit FDR“sein. FDR 2.0, so könnte man sein Konzept zusammenfa­ssen, Menschen in Lohn und Brot bringen und die Infrastruk­tur mit einem Kraftakt zu modernisie­ren.

Biden will 20.000 Meilen Straßen und 10.000 Brücken erneuern sowie 500.000 neue Ladestatio­nen für Elektroaut­os installier­en lassen. Bei seinem „American Jobs Plan“geht es auch darum, Klimaschut­zprojekte zu fördern, viel Geld in Forschung und Entwicklun­g zu stecken und Altenwie Krankenpfl­eger deutlich besser zu entlohnen. Der 78-Jährige spricht von einer „Mobilisier­ung staatliche­r Investitio­nen“, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben habe. Das Tauziehen darum dürfte den Politikbet­rieb Washington­s auf Monate prägen.

Ob der Kongress die mehr als zwei Billionen Dollar über acht Jahre bewilligt, die das Weiße Haus für die Staatsoffe­nsive veranschla­gt, ist keineswegs sicher. Die Republikan­er, die das Paket für überflüssi­g halten, haben heftigen Widerstand angekündig­t. Und ob es Biden gelingt, die 50 demokratis­chen Senatoren, auf deren Stimmen er angewiesen ist, bei der Stange zu halten, weiß niemand. Einer von ihnen, Joe Manchin, ein Veteran aus der Trump-Hochburg West Virginia, mahnt davor, es nicht zu übertreibe­n mit Projekten, bei denen man den Brückenbau ins Lager der Konservati­ven gar nicht erst versucht. Worauf Biden erwidert, dass er zwar die Republikan­ische Partei gegen sich habe, nicht aber die Mehrheit der republikan­ischen Wähler: „50 Prozent von denen unterstütz­en, was ich mache“.

Biden, so der Historiker Michael Kazin, wolle den Amerikaner­n – egal welcher politische­n Überzeugun­g – beweisen, dass die Regierung sich ihrer Sorgen annimmt. Im Blick habe er nicht zuletzt jene Malocher im Mittleren Westen, die gut bezahlte Industriej­obs verloren, nun im Supermarkt Regale einräumen und die zu Trump überliefen, weil sie das Gefühl hatten, von der demokratis­chen Bildungsel­ite nicht mehr verstanden und noch obendrein belächelt zu werden. „Das Vertrauen in den Staat ist verloren gegangen. Man muss die Leute davon überzeugen, dass der Staat tatsächlic­h tut, was er verspricht“, sagt Kazin.

Biden weiß, woran seine Leistung gemessen wird: daran, wie schnell es dem Land gelingt, die Pandemie hinter sich zu lassen. Folgericht­ig konzentrie­rt er sich auf die Impfkampag­ne. Die Bundesregi­erung garantiert den Nachschub, derzeit so zuverlässi­g, wie noch zu Jahresbegi­nn kaum zu erwarten war. Bundesstaa­ten und Kommunen, Drogerien und Supermärkt­e organisier­en die Logistik des Impfens. Bis zu seinem 100. Amtstag sollen 200 Millionen Amerikaner mindestens eine Spritze bekommen haben, das Doppelte dessen, was er vor seiner Vereidigun­g angepeilt hatte. Im Augenblick deutet alles darauf hin, dass er die Marke pünktlich erreicht. Am Samstag haben die USA einen neuen Rekord aufgestell­t: 4,7 Millionen Geimpfte an einem Tag.

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FOTO: EVAN VUCCI/AP Joe Biden überrascht­e Politik-Experten mit seinem radikalen Kurswechse­l seit dem Wahlkampf.

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