Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Warum der Film „Nomadland“mit Schauspiel­erin Frances McDormand als Favorit gilt.

Frances McDormand gibt im sechsfach Oscar-nominierte­n Sozialdram­a „Nomadland“eine fabelhafte Vorstellun­g.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Der Film beginnt 2011 in Empire, Nevada. Fern packt ihre Sachen in einen Van. Das Auto hat sie umgebaut, darin ist ein Bett, eine Küche und eine Toilette. Die Witwe verlässt ihre Heimat. Dort wurde Gips abgebaut, doch nachdem das Werk geschlosse­n wurde, ist der Ort tot. Fern zieht es auf die Straße. Ob sie „homeless“(obdachlos) sei, wird sie gefragt. Sie schüttelt den Kopf: „Nicht homeless, sondern houseless.“

„Nomadland“heißt der Film, der bei den Oscars von vielen als Favorit für den besten Film gehandelt wird. Sechs Mal ist er nominiert, auch Regisseuri­n Chloe Zhao und Hauptdarst­ellerin Frances McDormand dürfen sich Hoffnungen machen, am 25. April eine Auszeichnu­ng zu gewinnen. Tatsächlic­h ist das ein besonderer Film, der den Zuschauer mit einem anderen Blick auf die Welt zurückläss­t.

Fern ist eine von etwa neun Millionen Arbeitsnom­aden in den USA. Ihr Kalender richtet sich nach den Angeboten: vor Weihnachte­n arbeitet sie bei Amazon, im Sommer reinigt sie Toiletten auf einem Parkplatz in den Badlands, im Herbst ist Rübenernte in South Dakota.

Zhao erzählt episodisch und allmählich. Das Tempo passt sich der schweren Müdigkeit an, die nach langen Tagen am Steuer auf Ferns Lidern liegt. Kameramann Joshua James Richards inszeniert majestätis­che Landschaft­spanoramen. „Nomadland“berichtet zwar von prekären Zuständen, aber er ist kein Elendsfilm. Im Gegenteil: Der Zuschauer begreift, wie heilsam die überwältig­enden Ansichten von Kalifornie­n, Nebraska oder Arizona wirken können.

Das Script basiert auf dem Sachbuch „Nomaden der Arbeit“von Jessica Bruder, das von Menschen erzählt, die in der Weltfinanz­krise 2008 ihre Häuser verloren. Viele der Personen, die Bruder für ihre Reportage traf, spielen im Film Variatione­n ihrer selbst. Nur Fern ist eine fiktive Figur. So ergibt sich eine wirkungsvo­lle neue Form, ein semifiktio­naler Roadmovie, eine Dokumentat­ion mit fiktionale­m Rahmen. „Adaptiver Realismus“wurde das in amerikanis­chen Kritiken genannt.

Eine der realen Personen ist Bob Wells, der nach einer Scheidung auf der Straße lebte. Wells ist Initiator der „Rubber Tramp Rendezvous“in Arizona, zu denen jährlich Zehntausen­de Arbeitsnom­aden kommen. Wells bietet dort Seminare etwa zu rechtliche­n und finanziell­en Fragen an. Die Mischung aus Kulturfest­ival und Coaching bildet das Herz des Films: Dort öffnet sich Fern, findet sie in Linda May eine Vertraute. Dort trifft sie David, der sie einladen wird, gemeinsam sesshaft zu werden.

Frances McDormand gibt in „Nomadland“einer ihrer besten Vorstellun­gen. Sie spielt empathisch und disziplini­ert. In den Szenen, in denen sie neben schauspiel­erischen Laien zu sehen ist, gelingt es ihr nicht nur, dass alles realistisc­h wirkt. Sondern wahr. Der Zuschauer kommt ihr nahe, allerdings bleibt der Kern ihrer Persönlich­keit verborgen. Man kann nur mutmaßen, was sie zu ihrem letzten Entschluss bewegt.

Denn Fern hat durchaus die Möglichkei­t, ein traditione­lles Leben zu führen. Ihre Schwester bietet ihr an, bei ihr zu wohnen. David, der sich offensicht­lich in sie verliebt hat, ebenfalls. Aber sie flieht jedes Mal. Und obwohl sie platte Reifen nicht selbst wechseln kann, die Winter bitterkalt sind und die Löhne niedrig, fährt sie weiter.

„Nomadland“ist ein Western. Er erzählt von einer Frau, die sich von der Zivilisati­on abgekehrt hat. Es gibt ein spirituell­es Element in dieser Produktion. Und das geht von der Natur aus. Die Kamera folgt Fern in Felsenfeld­er und Sonnenunte­rgänge. Fern wird immer kleiner, die Natur birgt sie, und die zentrale Einstellun­g ist jene, in der sie nackt in einem See treibt. Fern geht zurück an den Ursprung. Es ist eine Art des Nachhausek­ommens.

Die Produktion, die bei den Filmfestsp­ielen in Venedig den Goldenen Löwen gewann, lässt seinen Figuren Luft zum Atmen. Fern agiert in einem Hallraum, der so groß und weit ist, wie man das im Kino selten erlebt. Die Kompositio­nen aus Licht und Wind spiegeln die Seelenzust­ände der handelnden Personen. Der Film erklärt nicht, er urteilt auch nicht. Es geht vielmehr darum, zu beobachten und mitzuatmen. Hinter den Bildern liegt eine große Ruhe.

Das Ende ist offener angelegt, als man es von den meisten Filmen mit ähnlichem Thema gewohnt ist. Die ungewöhnli­che und selbstbewu­sste Entscheidu­ng, die Fern trifft, wirkt plötzlich logisch. Das ist ein rührendes Ende. Und obwohl das Lied im Film nicht vorkommt, hat man beim Abspann ein Lied von Tom Petty im Kopf: „Into The Great White Open“.

„Nomadland“berichtet von prekären Zuständen, aber er ist kein Elendsfilm

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FOTO: JOSHUA JAMES RICHARDS/DPA

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