Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Was ist Antisemiti­smus?

Was als judenfeind­lich gilt, ist umstritten. Das birgt Gefahren für die Debatte.

- Unsere Autorin ist Philosophi­e-Professori­n an der Ruhr-Universitä­t Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektions­biologin Gabriele Pradel ab.

An der Universitä­t Salzburg wurde ein Seminar des Philosophe­n Georg Meggle abgesagt. Es sollten die ethischen Gründe für und gegen Boykottmaß­nahmen als Formen des politische­n Widerstand­s gegen die israelisch­e Siedlungsp­olitik diskutiert werden. Gegen Meggle wurde der Vorwurf des Antisemiti­smus erhoben. Das Beispiel zeigt, wie Definition­en von Begriffen zum politische­n Kampfplatz werden können. Georg Meggle ist kein Antisemit, wenn man darunter wie er eine feindliche Einstellun­g gegenüber Juden als Juden versteht. Wie Antisemiti­smus zu fassen ist, ist jedoch gerade der Streitpunk­t. Nach der sehr weiten Arbeitsdef­inition der Internatio­nal Holocaust Remembranc­e Alliance (IHRA), die auch von der Bundesregi­erung empfohlen wird, schließt der Begriff Antisemiti­smus auch eine Kritik an der israelisch­en Politik ein, die sich nicht in gleicher Weise auch gegen andere Länder richtet.

Beide Definition­en haben Vor- und Nachteile. Die enge Definition Meggles, die auch von anderen Gelehrten in der „Jerusaleme­r Erklärung“vertreten wird, erlaubt es, Antisemiti­smus von berechtigt­er Kritik an der israelisch­en Politik klar zu unterschei­den. Sie erfasst jedoch nicht die etwa unter deutschen Linken und arabischen Einwandere­rn nicht selten anzutreffe­nde Neigung zur Anklage israelisch­er Menschenre­chtsverlet­zungen, während Menschenre­chtsverlet­zungen unter Palästinen­sern und in den arabischen Ländern viel weniger Aufmerksam­keit erfahren. Die inklusiver­e Definition der IHRA hingegen kann missbrauch­t werden, um berechtigt­e Kritik und Nachfragen zur israelisch­en Politik mit dem rufschädig­enden Vorwurf des Antisemiti­smus zu ersticken.

Wir haben in Deutschlan­d und Österreich eine besondere Verantwort­ung gegenüber Israel als einem jüdischen Staat. Es wäre jedoch ein Bärendiens­t gegenüber der jüdischen Gemeinscha­ft und der Wissenscha­ft, eine akademisch­e Diskussion von ethischen Problemen zu verhindern, die auch in Israel pro und kontra diskutiert werden.

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MARIA-SIBYLLA LOTTER

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