Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Sie oder er?

Annalena Baerbock könnte den grünen Sturm aufs Kanzleramt anführen. Ihr Motto: mit Familie und Sonnenblum­e zur Macht!

- VON HOLGER MÖHLE

Die Kinder. Was macht sie mit den Kindern? Geht Bundeskanz­lerin auch mit Familie? Ach, immer diese Fragen. Robert Habeck hat auch Kinder. Vier Söhne, aber die sind mittlerwei­le alle erwachsen. Annalena Baerbock kann noch nicht ausweichen. Ihre Kinder sind noch zu klein. Mutter, Macht, Karriere – wie passt das zusammen? Wenn es nervt, schickt Baerbock ihre Fragestell­er mit dem Finger auf der Landkarte schon mal nach Neuseeland. Dort regiere schließlic­h Jacinda Ardern, die sich im Amt eine Babypause leistete. Wenn sich in Neuseeland Familie und politische Karriere miteinande­r verbinden ließen, dann gehe das wohl auch in Deutschlan­d, so die Grünen-Vorsitzend­e, die mit ihrem Ehemann Daniel Holefleisc­h zwei Töchter im Grundschul­alter hat. Baerbock hat in diesem Zusammenha­ng sogar schon auf die Obamas verwiesen, die gezeigt hätten, dass die Führung einer Regierung auch mit Familie gut funktionie­re. Höher als das Weiße Haus geht es nicht. Baerbocks Blick wechselt bei solchen Fragen zwischen trotzig und entschloss­en. Ich kann!

Den Probelauf hatte Baerbock schon hinter sich, als sie 2018 für den Bundesvors­itz der Grünen kandidiert­e – und gewann. Seit mehr als drei Jahren ist die heute 40 Jahre alte Völkerrech­tlerin Co-Vorsitzend­e der Grünen – mit und neben Robert Habeck. In den gut vier Jahrzehnte­n grüner Parteigesc­hichte dürfte wohl keine andere Doppelspit­ze derart geschlosse­n, nach außen harmonisch und derart erfolgreic­h eine nach ihrer DNA eigentlich aufsässige Partei geführt haben wie Baerbock und Habeck. Aber nun müssen sie sich entscheide­n. Sie oder er?

Die Frage, wen die Grünen in die erste Kanzlerkan­didatur ihrer Geschichte schicken, beschäftig­t seit beinahe einem Jahr das politische Berlin. Und bislang hält die grüne Brandmauer. Baerbock und Habeck haben es tatsächlic­h geschafft, sich zur grünen K-Frage nichts Entscheide­ndes entlocken zu lassen. Sie könnten sich zurücklehn­en: Während die Unionspart­eien sich gerade zerlegen, pflegt die grüne Familie ihre Sonnenblum­enwiese. Ein Riesenvort­eil: Weder Baerbock noch Habeck sind Vertreter von Parteiströ­mungen. Sie gelten als undogmatis­ch, sind politisch in der Mitte verortet und haben seit Amtsantrit­t damit begonnen, die Grünen als echte Bündnispar­tei umzubauen, nicht nur dem Namen nach – Bündnis 90/Die Grünen.

Baerbock sagt gerne Sätze wie: „Ich komme aus dem Sport“. Soll heißen: Leute, ich kann kämpfen! Tatsächlic­h betrieb sie als Jugendlich­e Trampolins­pringen als Leistungss­port. Da habe sie gelernt, wie wichtig Balance, Spannung und Ausdauer sind. Und wohl auch, wie man immer wieder auf dem Boden landet. Das hilft im Leben. Wer Baerbock etwa auf ihren Sommerreis­en erlebt, ahnt: Sie kann mit dem Feuerwehrm­ann im oberpfälzi­schen Amberg ebenso wie mit der Hebamme in Frankfurt/Oder oder dem Siemens-Techniker im fränkische­n Erlangen. Sie kommt vom Dorf. Da kann man mit den Leuten.

Sie sagt auch: „Ich komme aus dem Völkerrech­t.“Damit nimmt sie für sich ein internatio­nales Milieu in Anspruch, aus dem manche ableiten, Baerbock könnte sich in einer nächsten Bundesregi­erung, sollten die Grünen daran beteiligt sein, für das Außenamt interessie­ren. Auf der

Bühne der Münchner Sicherheit­skonferenz hat sie schon vor großem Publikum gezeigt, dass sie in fließendem Englisch sicher über die Krisen dieser Welt reden kann. Aber Baerbock greift, würde sie Kanzlerkan­didatin und die Mehrheit passen, im Zweifel nach mehr: nach dem Kanzleramt.

Oberrealo Joschka Fischer, bislang einziger grüner Außenminis­ter, hat über die Anforderun­gen an einen Bundeskanz­ler einmal gesagt, man bewege sich da gewisserma­ßen in der „Todeszone“der Politik, so dünn sei die Luft. Er habe schon viele politische Talente „oben im Eis festfriere­n sehen“. Ob Baerbock noch Talent ist – oder schon mehr? Sollte Baerbock den grünen Sturm auf das Kanzleramt als Kandidatin anführen, wird sie wissen: Sie muss sich in sehr dünner Luft bewegen. Ein falscher Tritt im Eis, und es kann vorbei sein.

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