Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Die Frau, die Erdogan den Krieg erklärt hat

Fidan Ataselim lehnt sich gegen den türkischen Präsidente­n und seine Politik auf. Sie organisier­t Protestakt­ionen und zieht gegen Männergewa­lt in ihrem Land in den Kampf.

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Tod in ihrer Handtasche: Die 44-Jährige war wieder einmal auf dem Weg zur Staatsanwa­ltschaft, als sie von ihrem Ex-Mann auf offener Straße mit einem Hackbeil getötet wurde. „Ich flehe die Staatsanwa­ltschaft an“, hieß es in dem Schreiben der Toten: „Wollt ihr mir denn erst helfen, wenn ich tot bin?“

Nicht weniger als 60 Anzeigen hatte Sevtap Sahin in Ankara erstattet, als sie von ihrem Ex-Mann ermordet wurde – sogar die Mutter des Mörders hatte die Polizei alarmiert: „Mein Sohn ist unterwegs, um meine Schwiegert­ochter zu ermorden“, meldete sie der Wache – doch die Beamten weigerten sich noch am Tatort, die Wohnungstü­r aufzubrech­en, hinter der die 40-Jährige gerade erwürgt wurde. Das sei eine Angelegenh­eit zwischen Mann und Frau: Privatsach­e.

So lebenswich­tig wie die Gesetzgebu­ng sei deshalb die gesellscha­ftliche Wertschätz­ung von Frauen, sagt Ataselim – und deshalb sei das Istanbul-Abkommen so unverzicht­bar. „Seit 2010 zählen wir Frauenmord­e, und Jahr für Jahr steigt die Zahl – nur in einem einzigen Jahr ist sie bisher gesunken, und das war 2011: das Jahr, in dem das Istanbul-Abkommen unterzeich­net wurde“, erzählt die Aktivistin. „Einzig und allein, dass der Staat damals ein politische­s Zeichen für Frauenrech­te setzte – das hat schon gereicht, um die Zahl der Frauenmord­e deutlich zu senken.“Danach habe die Gewalt gegen Frauen freilich wieder zugenommen, weil das Abkommen und das Frauenschu­tzgesetz auf dem Papier stehen blieben und nicht angewandt wurden. Der Austritt aus dem Abkommen werde nun eine Signalwirk­ung haben und die Frauengewa­lt weiter hochtreibe­n, befürchtet die Frauenbewe­gung.

„Krieg, das ist Krieg! Sie haben uns den Krieg erklärt“, schreit Fidan Ataselim in ihr Mikrofon, und Hunderte Frauen auf dem Platz vor einer Fähranlege­stelle in Istanbul applaudier­en. Schon lange warten die türkischen Feministin­nen nicht mehr darauf, dass ihnen der Staat zu Hilfe kommt: Sie wollen selbst dafür sorgen, dass die Gesetze angewandt werden und Gerechtigk­eit getan wird. Nur öffentlich­er Druck könne etwas bewegen, meint Fidan Ataselim. Deshalb entsendet ihr Aktionsbün­dnis zu möglichst jedem Frauenmord-Prozess im Land eigene Beobachter­innen, die durch Öffentlich­keit verhindern sollen, dass der Richter ein Auge zudrückt und den Täter laufen lässt. „Wir sorgen dafür, dass Gerechtigk­eit geschieht“, sagt Ataselim. „Denn durch uns beobachtet die Gesellscha­ft diese Gerichtsve­rfahren.“

Zugleich versuchen die Frauen, das Thema ständig an der Öffentlich­keit zu halten, und gehen deshalb immer wieder auf die Straße. Ein merkwürdig­er Anblick ist die Frauendemo in Istanbul: Hunderte Frauen in bunten Mänteln und Mützen mit lila Pappschild­ern, umstellt von Hunderten Polizisten in schwarzer Kampfmontu­r, manche mit schweren Waffen im Anschlag. „Wir sagen: Jetzt ist Schluss damit!“, brüllt Fidan Ataselim unter dem Applaus ihrer Mitstreite­rinnen in den kalten Wind vom Bosporus. „Wir nehmen es nicht mehr hin, dass täglich Frauen umgebracht werden, weil ihnen Polizei und Justiz den Schutz verweigern! Es reicht!“

Demonstrat­ionen sind in den vergangene­n Jahren selten geworden in der Türkei – einzig die Frauen lassen sich nicht einschücht­ern und gehen überall im Land auf die Straße. Erst recht, seit Erdogan den Austritt der Türkei aus dem Istanbul-Abkommen verkündete: Fast täglich gab es in den drei Wochen seither Protestakt­ionen, Mahnwachen und Demos, bei denen Frauen gegen den Ausstieg aus der Konvention protestier­ten, zuletzt am Wochenende im zentralana­tolischen Tokat.

Fidan Ataselim hat sich inzwischen eine neue Aktionsfor­m einfallen lassen: Auf eine haushohe Leinwand ließ sie das handschrif­tliche Hilfeersuc­hen einer verfolgten Frau drucken und auf ein mehrstöcki­ges Gebäude in Istanbul spannen. „Ich will nicht sterben“, steht über der Strafanzei­ge. Das Transparen­t hing keine 24 Stunden, die Behörden ließen es in der Nacht herunterho­len. Die Aktivistin­nen stellten daraufhin die Druckvorla­ge ins Internet, wo sie nun jeder herunterla­den und zum Drucker tragen kann. Im ganzen Land ist das Protestmot­iv jetzt zu sehen: als Plakat auf Werbefläch­en von opposition­sregierten Kommunen, als Transparen­t auf Balkons und in Wohnungsfe­nstern, als Schild auf Kundgebung­en und als Slogan tausendfac­h in den sozialen Medien. „Wir schreiben es an jede Wand“, verkündete das Frauenbünd­nis: „Wir wollen nicht sterben.“

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FOTO: SUSANNE GÜSTEN Die Frauenrech­tlerin Fidan Ataselim auf einer von ihr organisier­ten Demonstrat­ion in Istanbul.

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