Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Wie Hückelhoven das Steinkohle-Aus überstand
Erkelenz befindet sich wegen des heranrückenden Braunkohle-Tagebaus Garzweiler II mitten in einem großen Strukturwandel. Den hat die Zechenstadt Hückelhoven schon hinter sich.
HÜCKELHOVEN Der Elfte im Elften zählt zumindest für die zahllosen Anhänger des Brauchtums Karneval im Rheinland zu den höchsten Feiertagen des Jahres, bildet er doch den Start in die Session in den Städten bis hin zu den kleinsten Dörfern. In Hückelhoven wurde der Spaß den Menschen allerdings zweimal verdorben – einmal im vergangenen Jahr (2020) mit den Veranstaltungsverboten in der Corona-Pandemie. Zum anderen 1991, es war ein Montag, als um 16.22 Uhr Franz-Josef Sonnen als Betriebsratsvorsitzender der Steinkohlezeche Sophia-Jacoba (SJ) seinen wartenden Kollegen erklären musste: „Es wird das Jahr 1997 sein. Wir haben damit nicht erreicht, was wir wollten, aber wir haben mehr erreicht, als andere wollten.“
„Andere“– das war die damalige CDU/FDP-Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl seit 1982, deren erklärtes Ziel es war, die Bergleute der deutschen Steinkohle für immer aus den Schächten nach Übertage zu holen, die Förderung ultimativ einzustellen. Für Hückelhoven hieß das: Die letzte Lore mit dem Edelanthrazit, der wertvollsten Kohle überhaupt, erreichte in der modernsten Zechenanlage der Welt das Tageslicht am 27. März 1997, dem tristesten Donnerstag in der Stadtgeschichte, die mit dem Abteufen der ersten Schächte 1908 begonnen hatte, und die ausschließlich auf dem Bergbau beruhte.
Denn das, was später das urbane Hückelhoven wurde, war ein Siedlungskonglomerat von Gemeinde-Dörfern mit zusammen nicht mal 10000 Einwohnern, darunter so gut wie keine ausgebildeten Bergleute. Und die mussten aus den bereits teils seit langem aktiven Steinkohle-Revieren angeworben und mit Wohnungen ausgestattet werden, die in Form von Gartenstadtsiedlungen in exquisiter Architektur geschaffen wurden und die Einwohnerzahl des Zentrums in gut zehn Jahren von 700 auf mehr als 5000 hochschnellen ließen. Der ansässige fränkisch-rheinische Dialekt wurde völlig an den Rand gedrängt, das gleiche Schicksal erlitten konservative Parteien wie das Zentrum durch die Kommunistische und die Sozialdemokratische Partei, in der Reihenfolge.
Ein Strukturwandel der extremen Art, dem rund 70 Jahre später eine Rolle rückwärts der extremen Art folgte, die Innenstadt hatte gut 9000, die Gesamtkommune 35.000 Einwohner. Beim Schließungsbeschluss in der Regierungsstadt Bonn hatte die Zeche mehr als 5000 gut ausgebildete und bezahlte Beschäftigte, für Zulieferer- und Auftragnehmer-Firmen
rechnete man noch einmal so viele Arbeitnehmer, die Grube war, so ermittelte man, die wirtschaftliche Basis für Unternehmen und rund 13.000 Menschen der Region.
Die erste Kohle war Ende 1913, Anfang 1914 gefördert worden, der Erste Weltkrieg legte das Werk fast still, das 1917 von niederländischen Unternehmen übernommen wurde. 1915 erreichte man mit einer Handvoll Bergleute eine verkaufsfähige Förderung von 317 Tonnen der ältesten und fast gasfreien Kohle, 1932 überschritt man bereits die
Millionengrenze der Produktion. Die Höchstförderung erreichte man 1986, als in Hückelhoven gut 2,2 Millionen Tonnen Steinkohle gefördert wurden.
Gut die gleiche Menge holte man an Abraum, fachmännisch Berge, aus der Erde und formte diese zu Halden, die heute und für lange Zeit noch gemeinsam mit dem Stahlturm, „Fördergerüst“, von Schacht 3 die materielle Erinnerung an die Montanindustrie in der Region an der Rur in Hückelhoven bilden und bieten – lebendig bleibend im Bergbaumuseum. In einem langen Kampf erreichten die Zechen-Belegschaft, Bürgerinitiativen und die Politik ein Zeitfenster von mehr als fünf Jahren, um den Strukturwandel nachhaltig und sozialverträglich einzuleiten, die Zechengelände fit zu machen und zu modernisieren für Neuansiedlungen von Betrieben.
1,5 Milliarden Mark wurden von den europäischen und deutschen Förderinstitutionen damals zur Verfügung gestellt – der Wandel wurde radikal: Statt neuer Industriearbeitsplätze in größerer Zahl wurden es – passend zur Globalisierung und
zum Strukturwandel auf der ganzen Welt – Handel, Dienstleistung und Logistik. Heute zählt die Stadt Hückelhoven mit knapp 11.000 versicherungspflichtigen Arbeitsplätzen gut 4000 mehr als zu Zechen-Zeiten.
Und die Einwohnerzahl sank, entgegen aller Befürchtungen beim Zechen-Aus, nicht, sondern erreicht mit Stand heute, April 2021, 41.500 Menschen neue Höchstwerte, die Stadt ist attraktiv für Auswärtige – und für Migranten: Mehr als 100 Nationen fühlen sich in der schon zu Bergbauzeiten weltoffen und international geprägten Stadt wohl.