Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Es ist zu ruhig im Seniorenha­us

Sie hatte immer gehofft, nie ins Heim zu müssen. „Aber es geht leider nicht anders“, sagt die 94-jährige Helga Mehrke. Sie macht sich viele Gedanken über Sterbehilf­e.

- VON LISA WEYER

KORSCHENBR­OICH Helga Mehrke sitzt auf ihrem Sessel vor dem großen Fenster. An der Wand hängen Fotos ihrer Familie. Einmal die Woche kommt ihre Tochter, die zwei Enkel und den Urenkel hat sie schon länger nicht gesehen. Die 94-Jährige freut sich über Besuch. Denn seit der Pandemie ist es ruhig geworden im Seniorenha­us Korschenbr­oich. Zu ruhig.

Seit nun drei Jahren lebt Helga Mehrke hier. Sie hadert nach wie vor damit: „Ich hatte immer gehofft, nie ins Heim zu müssen, aber es geht leider nicht anders“, sagt sie. Die gebürtige Kielerin hat sich an unsere Redaktion gewandt, nachdem sie einen Artikel über das Thema Sterbehilf­e gelesen hatte. Sie hat eine klare Meinung dazu: „Ich finde es richtig verwerflic­h, wenn ein Mensch, dem man ansieht, dass er sterben wird, künstlich am Leben gehalten wird.“Wie sie über diese Frage denkt, hat auch etwas mit ihrer eigenen Geschichte zu tun.

Mehrke verbrachte in ihrer Jugend die Sonntage nicht in der Kirche, sondern in der Natur. „Ich bin in der Nazi-Zeit groß geworden, mit Religion hatte man es da nicht so. Mein Vater sagte immer, im Wald sind wir Gott viel näher als in der Kirche.“Im Krieg erlebte sie viele Angriffe auf das nahe Kiel. Als wichtiger Ort für die deutsche Marine wurde die Stadt bereits früh von alliierten Bombern beschossen. Damals sei sie oft um ihr Leben gerannt. Immer eine halbe Stunde lang. So lang dauerte der Weg bis zum nächsten Luftschutz­bunker. „Da kamen dann schon die Tieffliege­r und haben geschossen.“

Als technische Zeichnerin entwarf sie nach dem Krieg U-Boote. Ein Beruf, den sie aufgab, um zu ihrem Mann zu ziehen. Ihn hatte sie auf einer Tanzverans­taltung in Oberhausen kennengele­rnt. „Wie waren wohl füreinande­r bestimmt“, sagt sie schmunzeln­d. Mit ihm gründete sie am Niederrhei­n eine Familie.

„Mein Mann hatte sich bei Sempell beworben“, sagt sie. Mehrke arbeitete bei Sasserath und entwarf Armaturen. „Das war ein anderes Gebiet. Ich musste eben umdenken.“

Es mag an ihrem Alter oder an der Pandemie liegen – vielleicht auch an beidem: Jedenfalls hat sich Helga Mehrke in letzter Zeit viele Gedanken über ihren Tod gemacht. Ihr ist es ein Herzensanl­iegen, irgendwann in Würde sterben zu können.

Wie anderen Heimbewohn­ern auch macht ihr die anhaltende Pandemie schwer zu schaffen. Sie vermisst ihr Zuhause im doppelten Sinne. Zum einen ihre alte Wohnung in Korschenbr­oich, aber noch viel mehr ihre Heimat in Schleswig-Holstein.

Langeweile habe sie dennoch nicht. „Entweder schreibe ich meine Verse, bastle was oder löse Rätsel“, sagt sie. Und doch scheint ihr was zu fehlen: „Was kann man hier schon erleben?“, fragt sie. „Das ist nicht schön, man kommt sich oft so eingesperr­t vor.“

 ?? FOTO: DETLEF ILGNER ?? Helga Mehke (94) lebt seit drei Jahren im Seniorenha­us.
FOTO: DETLEF ILGNER Helga Mehke (94) lebt seit drei Jahren im Seniorenha­us.

Newspapers in German

Newspapers from Germany