Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Wofür steht Borussia?
Wofür steht Borussia? Marco Rose hat es nicht geschafft, sie vom Ballbesitz- zum Pressing-Team zu transformieren. Kurz vor dem Abschied des Trainers fehlt der Mannschaft ein klares Profil. Das unterscheidet sie von der Konkurrenz.
Besonders Lauf- und Sprintdaten der Gladbacher werfen die Frage auf, wohin sich die Mannschaft unter Marco Rose entwickelt hat.
Lauf- und Sprintdaten mit dem Ergebnis zu verknüpfen, ist häufig unpräzise und populistisch. Doch am vergangenen Samstag war keine tiefergehende Analyse notwendig, um festzustellen: Diese Zahlen waren eine Katastrophe. 199 Sprints legte Borussia in München hin, schon sechsmal in dieser Saison waren es weniger gewesen, zweimal gewann Gladbach dennoch, unter anderem im Januar gegen den FC Bayern. Diesmal verblüffte jedoch die Differenz zum Gegner: Auf 283 Sprints kamen die Bayern, 84 mehr als Borussia, obwohl der Rekordmeister eine Viertelstunde lang in Unterzahl spielte. Größer als 56 Sprints war der Unterschied in dieser Saison bislang nie gewesen.
Wir springen zwei Jahre zurück, Ende Mai 2019, Marco Roses erste Pressekonferenz in Gladbach. „Meine Spielidee basiert auf Emotionalität, auf Gier, grundsätzliche Dinge, die wichtig sind. Auf Aktivität, wir wollen aktiv gegen den Ball arbeiten, viel sprinten“, erklärte der neue Trainer. „Das sind Dinge, die man bei Borussia zuletzt nicht so hatte.“Und Manager Max Eberl fügte an: „Wenn wir schon die meisten Sprints gehabt hätten, hätte ich Rose nicht geholt.“Aus dem Schlusslicht der Sprint-Tabelle wurde im ersten Rose-Jahr der 13., doch seitdem hat Borussia einen Rückschritt gemacht. Nur Werder Bremen ist 2020/21 bislang weniger gesprintet.
Am Ende des zweiten Rose-Jahres stellt sich die Frage, wofür die Fohlen stehen. John Muller hat sich diese Frage nicht direkt gestellt, sie aber indirekt beantwortet. Er wollte alle Erstligisten der europäischen Topligen anhand ihrer Spielstatistiken einer von sieben Stilrichtungen zuordnen, die Arbeit erledigte der Computer für den US-Journalisten. Borussia Mönchengladbach landete im Ballbesitz-Block mit Real Madrid,
Inter Mailand oder Paris Saint-Germain, was Muller als „ungünstig“bezeichnete. Auf der Karte, die bei seinem Projekt herauskam, ist Gladbach in einem Dreieck aus der AS Rom, dem OSC Lille und Atlético Madrid positioniert, aber weit weg von den vier deutschen Top-Teams der vergangenen Jahre. Bayern München, Borussia Dortmund, RB Leipzig und Bayer Leverkusen sind anhand ihrer Statistiken eindeutig „aggressiv“unterwegs, der VfL Wolfsburg und Eintracht Frankfurt, der Klub des neuen Gladbach-Trainers
Adi Hütter, finden sich bei den Pressing-Teams wieder.
All das passt zu dem optischen Eindruck, dass Borussia stilistisch etwas verloren wirkt. Sequenziert man ihre DNA, wie Muller es in seinem Newsletter „Space space space“getan hat, wirft das mehr Fragen auf, als es Antworten liefert. Als die Gladbacher unter Dieter Hecking läuferisch im Abstiegskampf unterwegs waren, widersprach kaum jemand, wenn sie als Ballbesitz-Mannschaft bezeichnet wurden.
Die Analystin Jasmine Baba hat sich im März zwischen Roses Abschieds-Ankündigung und der Bekanntgabe der Hütter-Verpflichtung angesehen, wie sich die zugehörigen Zahlen seit Heckings Weggang entwickelt haben. Wir haben sie aktualisiert. Sie werfen kein gutes Licht auf das Ballbesitz-Spiel: Die Pässe ins letzte Drittel sind um 15 Prozent zurückgegangen, die Pässe in den Strafraum um 13, die erfolgreichen Flanken in den Sechzehner um 11 und die Pässe mit Raumgewinn um 7.
All die Defizite wären verkraftbar,
wenn in anderen Bereichen ein erfolgreicher Stilwechsel sichtbar wäre. Aber Borussia ist eben auch weit davon entfernt, ein Pressing-Team zu sein. Es gibt einen Wert, der angibt, wie viele Pässe eine Mannschaft dem Gegner erlaubt, bevor sie ihn attackiert. 2018/19 stand Gladbach in diesem Ranking auf Platz 16, es ging hoch auf Platz 8, jetzt ist Roses Team Zehnter. Sein Nachfolger wird übrigens der Trainer der Mannschaft, die am drittfrühesten attackiert, Hütters Eintracht.
Sprint- und Laufdaten sind beileibe nicht alles, differenziert werden muss immer. So legt Union Berlin, Gladbachs Konkurrent um die Conference League, die meisten Kilometer zurück, liegt aber in der Sprinttabelle auf dem Relegationsplatz. Was sich über Borussia sagen lässt: Mehr bringt mehr. Kam sie unter Rose in der Liga auf mehr Sprints und mehr Kilometer als der Gegner, holte sie im Schnitt 2,3 Punkte. Allerdings gelang das diese Saison nur beim 2:1 gegen den SC Freiburg. Lag sie in beiden Bereichen hinten, gab es nur einen Zähler. Und: Vor Corona lief Gladbach in 17 von 24 Spielen mehr als der Gegner, anschließend nur noch in 15 von 42.
Das Thema ist also äußerst vielschichtig, eine Zahl kann unterschiedlichste Dinge aussagen. Am Samstag in München jedoch gab es keine Zweifel: Das war zu wenig.