Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Das Risiko fährt mit
Das Land nutzt eine Studie der Charité, um für den Nahverkehr zu werben. Viel wichtiger wäre es, Vielfahrer priorisiert zu immunisieren.
Der Titel ist eingängig: „Sicher unterwegs mit Bus und Bahn in Pandemie-Zeiten“. Unter dieser Überschrift fasst die NRW-Landesregierung eine neue Studie zum Corona-Risiko im Nahverkehr zusammen. Die Untersuchung der Forschungsfirma der Berliner Charité (Charité Research Organisation) in Berlin belege, hieß es, dass es kein erhöhtes Risiko einer Infektion herbeiführe, wenn Menschen mit Bus und Bahn unterwegs seien, als wenn sie sich nur mit Auto, Fahrrad oder zu Fuß fortbewegten. Tatsächlich zeigt sich, dass die Ergebnisse viel differenzierter zu lesen sind.
Zunächst werden in der Untersuchung nur niedrige Fallzahlen verglichen: 337 Menschen fuhren in der Betrachtung mit Bus und Bahn, von denen nach vier Wochen zwölf positiv getestet wurden. Das ist eine Infektionsquote von 3,6 Prozent in nur einem Monat. In der Vergleichsgruppe waren dann nach vier Wochen von 328 Menschen 14 positiv getestet. Das brachte eine Quote von 4,3 Prozent. Diese Zahlen weisen zwar darauf hin, dass es tatsächlich keine höheren Infektionen durch die Nutzung von Bus geben könnte, aber ein statistisch relevanter Beweis sind sie nicht. Schon die unplausible Tatsache, dass alleine reisende Menschen sich sogar häufiger anstecken als in Bus und Bahn, zeigt, wie dünn die
Datengrundlage ist.
Das wirklich interessante Ergebnis der Studie sind jedoch die enorm hohen Ansteckungsquoten unter Menschen, die viel unterwegs sind und die alleine für die Studie ausgewählt wurden: Umgerechnet auf 100.000 Menschen und sieben Tage kommt diese Gruppe als ÖPNV-Nutzer auf eine Sieben-Tages-Inzidenz von rund 890. Die Vergleichsgruppe, die ebenfalls viel unterwegs war, sich aber nur individuell auf die Reise machte, kommt auf einen Wert von mehr als 1000. Zur Erinnerung: Die Bundesnotbremse gilt bereits ab einer Inzidenz von 100 in einem Landkreis oder einer Stadt.
Erstens ist es richtig, darauf hinzuweisen, dass es anscheinend kein besonders hohes Infektionsrisiko gibt, nur weil ein Bürger eine Fahrt nun per ÖPNV statt individuell absolviert. Das gilt aber nur, weil Busse und Bahnen aktuell sowieso meistens leer sind und weil dort strikte Maskenpflicht gilt. NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst (CDU) hat auch recht damit, auf viel Abstand im ÖPNV zu dringen.
Zweitens müssen aber Land und Bund die Impfstrategie durchdenken: Zum Beispiel ob wirklich Anfang Juni jede Form der Priorisierung beim Impfen beendet werden sollte. Das dürfte dazu führen, dass Menschen mit viel Zeit und guten Kontakten zu ihren Ärzten schnell auf die Liste kommen, wogegen die breite Masse der volljährigen Schüler, Studenten, Lehrlinge, Schichtarbeiterund Schichtarbeiterinnen später immunisiert werden.
Ich habe die Verkäuferin beim Bäcker gefragt, ob sie geimpft werde. Sie antwortete, sie habe keine Zeit, viele Stunden in einer Warteschleife zu verbringen. Wie kann man nun vorgehen? Nachdem schon in bestimmten Vierteln gezielte Impfaktionen starteten, weil die Menschen dort beengt leben, könnte die Politik sich Impfaktionen für besonders „mobile“Gruppen überlegen, um das Risiko für die ganze Gesellschaft zu senken. Einige Ideen: Zum Abitur gibt es die Spritze dazu, für Lehrlinge ab 16 Jahren auch, für Mitarbeiter der wieder startenden Gastronomie auch. Und ebenso für Berufstätige mit Anwesenheitspflicht in der Firma wie etwa Schichtarbeiter.