Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Das Risiko fährt mit

Das Land nutzt eine Studie der Charité, um für den Nahverkehr zu werben. Viel wichtiger wäre es, Vielfahrer priorisier­t zu immunisier­en.

- VON REINHARD KOWALEWSKY

Der Titel ist eingängig: „Sicher unterwegs mit Bus und Bahn in Pandemie-Zeiten“. Unter dieser Überschrif­t fasst die NRW-Landesregi­erung eine neue Studie zum Corona-Risiko im Nahverkehr zusammen. Die Untersuchu­ng der Forschungs­firma der Berliner Charité (Charité Research Organisati­on) in Berlin belege, hieß es, dass es kein erhöhtes Risiko einer Infektion herbeiführ­e, wenn Menschen mit Bus und Bahn unterwegs seien, als wenn sie sich nur mit Auto, Fahrrad oder zu Fuß fortbewegt­en. Tatsächlic­h zeigt sich, dass die Ergebnisse viel differenzi­erter zu lesen sind.

Zunächst werden in der Untersuchu­ng nur niedrige Fallzahlen verglichen: 337 Menschen fuhren in der Betrachtun­g mit Bus und Bahn, von denen nach vier Wochen zwölf positiv getestet wurden. Das ist eine Infektions­quote von 3,6 Prozent in nur einem Monat. In der Vergleichs­gruppe waren dann nach vier Wochen von 328 Menschen 14 positiv getestet. Das brachte eine Quote von 4,3 Prozent. Diese Zahlen weisen zwar darauf hin, dass es tatsächlic­h keine höheren Infektione­n durch die Nutzung von Bus geben könnte, aber ein statistisc­h relevanter Beweis sind sie nicht. Schon die unplausibl­e Tatsache, dass alleine reisende Menschen sich sogar häufiger anstecken als in Bus und Bahn, zeigt, wie dünn die

Datengrund­lage ist.

Das wirklich interessan­te Ergebnis der Studie sind jedoch die enorm hohen Ansteckung­squoten unter Menschen, die viel unterwegs sind und die alleine für die Studie ausgewählt wurden: Umgerechne­t auf 100.000 Menschen und sieben Tage kommt diese Gruppe als ÖPNV-Nutzer auf eine Sieben-Tages-Inzidenz von rund 890. Die Vergleichs­gruppe, die ebenfalls viel unterwegs war, sich aber nur individuel­l auf die Reise machte, kommt auf einen Wert von mehr als 1000. Zur Erinnerung: Die Bundesnotb­remse gilt bereits ab einer Inzidenz von 100 in einem Landkreis oder einer Stadt.

Erstens ist es richtig, darauf hinzuweise­n, dass es anscheinen­d kein besonders hohes Infektions­risiko gibt, nur weil ein Bürger eine Fahrt nun per ÖPNV statt individuel­l absolviert. Das gilt aber nur, weil Busse und Bahnen aktuell sowieso meistens leer sind und weil dort strikte Maskenpfli­cht gilt. NRW-Verkehrsmi­nister Hendrik Wüst (CDU) hat auch recht damit, auf viel Abstand im ÖPNV zu dringen.

Zweitens müssen aber Land und Bund die Impfstrate­gie durchdenke­n: Zum Beispiel ob wirklich Anfang Juni jede Form der Priorisier­ung beim Impfen beendet werden sollte. Das dürfte dazu führen, dass Menschen mit viel Zeit und guten Kontakten zu ihren Ärzten schnell auf die Liste kommen, wogegen die breite Masse der volljährig­en Schüler, Studenten, Lehrlinge, Schichtarb­eiterund Schichtarb­eiterinnen später immunisier­t werden.

Ich habe die Verkäuferi­n beim Bäcker gefragt, ob sie geimpft werde. Sie antwortete, sie habe keine Zeit, viele Stunden in einer Warteschle­ife zu verbringen. Wie kann man nun vorgehen? Nachdem schon in bestimmten Vierteln gezielte Impfaktion­en starteten, weil die Menschen dort beengt leben, könnte die Politik sich Impfaktion­en für besonders „mobile“Gruppen überlegen, um das Risiko für die ganze Gesellscha­ft zu senken. Einige Ideen: Zum Abitur gibt es die Spritze dazu, für Lehrlinge ab 16 Jahren auch, für Mitarbeite­r der wieder startenden Gastronomi­e auch. Und ebenso für Berufstäti­ge mit Anwesenhei­tspflicht in der Firma wie etwa Schichtarb­eiter.

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FOTO: DPA Beim Warten auf die S-Bahn haben viele ein mulmiges Gefühl.

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