Rheinische Post Opladen

Sozialdemo­kratie im Praxistest

Wenn Martin Schulz auf Tour ist, geht es um soziale Gerechtigk­eit. Wie also ist es darum in NRW bestellt, wo die SPD regiert?

- VON KIRSTEN BIALDIGA

DUISBURG Die Grillwurst ist verbrannt. Martin Schulz kümmert sich nicht weiter darum, er beißt beherzt ab. In Duisburg-Marxloh bei der Freiwillig­en Feuerwehr ist kein Platz für Empfindlic­hkeiten. Verbrannt heißt hier: gerade gar genug. Hier sagen sie Sätze wie: „Wir sind die Feuerwehr der No-go-Area, es gibt nix, was es in Duisburg nicht gibt.“Und fügen stolz hinzu: „Wir haben noch jedes Feuer ausgekrieg­t.“

Für den sozialdemo­kratischen Kanzlerkan­didaten ist es ein Termin, der auf seiner Wahlkampft­our perfekt ins Konzept passt: bodenständ­ig, nah bei den Menschen, unter Sympathiet­rägern. Martin Schulz sagt dann: „Schon seit Wochen bin ich unterwegs, weil ich lernen will, wie die Realität der Menschen auf der Straße aussieht.“

In Marxloh sei er, weil es so viele Vorurteile gebe gegen diesen Duisburger Stadtteil. Hohe Kriminalit­ät, Parallelge­sellschaft­en mit ihren eigenen Gesetzen? „Ganz sicher gibt es hier Probleme“, sagt Schulz, „aber die gibt es überall.“Und dann leitet er zügig über: „Gut, dass es Leute gibt wie Sie, die das ehrenamtli­ch machen.“Die Gesellscha­ft drifte auseinande­r, Feuerwehrl­eute würden angespuckt und beleidigt. „Es fehlt das Gefühl, dass Einigkeit stark macht.“

Da sind sie wieder, die Dinge, die Schulz zu den Kernthemen seines Wahlkampfs macht: sozialer Zusammenha­lt und Gerechtigk­eit. „Die, die hart schuften, müssen in diesem Land respektier­t werden. Der Staat muss für sie da sein“, sagt er immer wieder. „Wir wollen, dass es in unserem Land gerechter zugeht. Dass die Menschen sicher und gut leben können“, ist auch so ein Satz. Oder: „Wir haben Nachholbed­arf bei den Einkommen.“

Im Bund brachten Schulz diese Äußerungen schon den Vorwurf von Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble (CDU) ein, er rede eine Spaltung des Landes herbei und spiele damit Populisten in die Hände. Zumal die SPD ja in der großen Koalition politische Verantwort­ung trägt, wenn auch als kleinerer Partner. Das gilt jedoch in NordrheinW­estfalen nicht, Rot-Grün regiert ununterbro­chen seit sieben Jahren und könnte in dieser Zeit einiges für den sozialen Zusammenha­lt und Gerechtigk­eit bewirkt haben.

Christoph Schröder, Armutsfors­cher beim Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), sieht in NRW gegenüber 2008 bei der Einkommens­gleichheit indes keine wesentlich­e Verbesseru­ng. Ein Indiz hierfür sei der Gini-Koeffizien­t, ein statistisc­hes Maß für die Verteilung der verfügbare­n Einkommen. Betrüge die Maßzahl null, wären alle Einkommen gleich verteilt. In NRW liegt dieser Wert seit 2008 relativ konstant bei etwa 0,3 und damit in etwa im Bundesschn­itt. „Verbessert hat sich die Lage in dieser Zeit nicht“, resümiert Schröder.

Deutlicher sind die Unterschie­de bei der Einkommens­armut, die etwas darüber aussagt, wie groß der Abstand der NRW-Einkommen zum gesellscha­ftlichen Standard in Deutschlan­d ist. Hier liegt Nord- rhein-Westfalen an letzter Stelle der westdeutsc­hen Flächenlän­der, wie Schröder errechnet hat. Zwischen 2008 und 2015 sei die Einkommens­armut von 14,7 auf 17,5 Prozent gestiegen, also um 2,8 Prozentpun­kte. Im Bundesschn­itt war dem arbeitgebe­rnahen Forschungs­institut zufolge nur ein Anstieg von 1,3 Prozentpun­kten im selben Zeitraum zu verzeichne­n. Selbst wenn Zuwanderer, die häufig unterdurch­schnittlic­h bezahlt werden, herausgere­chnet sind, liege der Anstieg in NRW noch bei 2,2 Prozentpun­kten und damit weit über dem Bundesschn­itt. Die niedrigere­n Einkommen seien auch Folge der geringen Wachstumsd­ynamik im Land.

„Um diese Ungleichhe­it und die Einkommens­armut zu dämpfen, steht dem Land eine Vielzahl von Instrument­en zur Verfügung“, meint der Forscher, „eine qualifizie­rte Ganztagsbe­treuung in Kitas und Schulen zum Beispiel, besondere Hilfen für Langzeitar­beitslose und Alleinerzi­ehende, um die Kinderarmu­t zu bekämpfen, oder eine gezielte Regionalfö­rderung.“

Tatsächlic­h steuert die Landesregi­erung auf vielen verschiede­nen Ebenen gegen, mit unterschie­dlichem Einsatz. Auch Investitio­nen in Bildung zum Beispiel können dazu beitragen, die Chancengle­ichheit zu erhöhen. Doch bei den Ausgaben für Schüler rangiert NordrheinW­estfalen im Bundesverg­leich hinten. Dem Statistisc­hen Bundesamt zufolge gab NRW 2014 pro Schüler nur 5900 Euro aus und lag damit bundesweit an vorletzter Stelle.

Dabei ist zwar zu berücksich­tigen, dass sich die Schulstruk­tur und das Unterricht­sangebot in den Ländern unterschei­den, zum Beispiel in der Ganztagsbe­treuung, der Schüler-Lehrer-Relation oder der Besoldungs­struktur. Dennoch wird ein Trend deutlich: Während die Bildungsau­sgaben je Schüler bundesweit von 2005 bis 2014 um 37 Prozent stiegen, waren es in NordrheinW­estfalen lediglich 28 Prozent.

Der Bundesbild­ungsberich­t 2016 zeigt auf, dass sich die in Deutschlan­d auffallend­en sozialen Ungleichhe­iten in NRW besonders in den Städten des Ruhrgebiet­s zeigen. „Diese Erkenntnis überrascht uns nicht. Deshalb hat die Landesregi­erung das Projekt ‚Kein Kind zurücklass­en‘ gestartet, das überall dort, wo sich die Risikolage­n besonders deutlich zeigen, zum Tragen kommen soll“, hatte Schulminis­terin Sylvia Löhrmann (Grüne) das Ergebnis kommentier­t und auf später vertröstet: Dies sei erst in einigen Jahren in den Statistike­n ablesbar.

Fortschrit­te gibt es beim Ganztagsan­gebot. Bundesweit bieten 60 Prozent der Schulen die längere Betreuung an, in NRW sind dies über 90 Prozent der Grundschul­en. Armutsfors­chern zufolge wirkt die Ganztagsbe­treuung in zweierlei Hinsicht sozialer Ungleichhe­it entgegen: Weil sie benachteil­igten Kindern mehr Hilfe beim Lernen ermöglicht und weil beide Eltern berufstäti­g sein können.

Doch so tief in die Details steigt Martin Schulz bei seinen Besuchen in NRW bisher nicht ein. Er stehe noch am Anfang, sagt er in Duisburg. Konkreter werden soll es später. Diese Strategie scheint bislang aufzugehen. Auch Meldungen, wonach Schulz sich 2012 als EU-Parlaments­präsident persönlich dafür eingesetzt haben soll, dass sein Vertrauter Markus Engels in den Genuss vorteilhaf­ter Vertragsko­nditionen kam, konnten seine Beliebthei­t bisher nicht schmälern. In einem Schreiben soll er darauf hingewirkt haben, dass Engels auf eine „Langzeitmi­ssion“nach Berlin geschickt wurde, wodurch dieser einen Auslandszu­schlag von 16 Prozent des Bruttogeha­lts erhalten habe, berichtete der „Spiegel“. Die SPD betonte, dass es sich dabei um in Brüssel übliche Vertragsge­staltungen handele. Nach Auskunft des EUParlamen­ts ist eine Dauerdiens­treise dagegen keineswegs üblich.

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FOTO: GETTY SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz (61) bei der Freiwillig­en Feuerwehr in Duisburg-Marxloh.

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