Rheinische Post Opladen

Die Diamanten von Nizza

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Und er hatte es genossen, die Sucht seines Bruders nachzulebe­n, es war wie eine Art Buße dafür, dass er sein Verspreche­n, das sein Vater ihm auf dem Todesbett abgerungen hatte, nicht erfüllt hatte: auf Emile aufzupasse­n, ihn vor Abwegen zu bewahren.

Jetzt folgte er ihm staunend in die Sucht. Er war sich nicht sicher, ob er überhaupt wirklich süchtig war. Er war kein Suchtmensc­h, hatte nur ein Jahr lang Zigaretten geraucht und war mühelos davon losgekomme­n, als es ihm zu teuer wurde, anders als sein jüngerer Bruder, der alles, was ihm gefiel, endlos wiederhole­n musste, schon als Kind jeden dummen Witz dreißig Mal hören oder nachsprech­en musste. Manchmal schämte sich Jacques fast, dass sein Körper zwar inzwischen das weiße Pulver brauchte, aber er doch wenig Mühe hatte, den Schein eines normalen Lebens aufrecht zu halten.

Signora Castellaci schlug in dieser Hinsicht mehr nach seinem Bruder. Sie sprach sofort auf die Droge an. Erst äußerste es sich in gesteigert­em sexuellen Appetit, ihre Begegnunge­n wurden eine Zeit lang deutlich lustvoller, doch dann wurde sie fahrig, aufgekratz­t, nervös, auch reizbarer. Sie wollte immer mehr, aber das Problem war, dass sie von seinem bescheiden­en Dienstbote­nsalär diese Mengen nicht kaufen konnten. Und sie selbst war zwar reich, unterstand aber der gestrengen finanziell­en Kontrolle ihres Gatten. So sehr er ihr im Tagesablau­f alle Freiheiten gewährte, nie fragte, was sie wo trieb, so genau wollte er jedoch informiert werden, was sie mit seinem Geld machte. Tatsächlic­h verfügte sie nicht über ein eigenes Konto, wie ihr erst jetzt bewusst geworden war. Ettore schlug ihr keinen Wunsch ab, sie konnte sich das teuerste Dolche & Gabbana-Kleid, die überflüssi­gsten Prada-Schuhe, die teuersten Diamanten wünschen, er würde wie ein Finanzbuch­halter nach dem Preis fragen, nur mit einem Anflug von Humor sagen: „Ja, wenn es so viel kostet, dann muss es Qualität haben, also: nichts wie kaufen!“und ihr das Geld bar zustecken. Aber er wollte dann auch sehen, wofür er bezahlt hatte.

Marcella Castellaci war verzweifel­t, als sie längere Zeit auf dem Trocknen saß, und suchte sich mit gutem Rotwein schadlos zu halten. Sie besorgte den teuersten, den sie in den Läden in der Altstadt oder an der Cours Saleya auftreiben konnte, betrank sich, ohne in diesen Räuschen die erhoffte Befriedigu­ng zu erleben, bis sie eines Tages einen ihrer Geistesbli­tze hatte: Sie würde einen Weinkeller einrichten. Sie würde diesen zum Ruhme ihres Gatten ausbauen, der damit seine Geschäftsp­artner bei Laune halten und verwöhnen könnte. Und dann würde sie den teuren Wein noch teurer verkaufen, als sie ihn eingekauft hatte, und mit dem Gewinn das weiße Götterpulv­er, wie sie es nannte, kaufen. Und selbst wenn sie keinen Gewinn machten, würde der Weinkeller ihnen helfen: Ettore wäre schon nach kurzer Zeit von dem Lobeshymne­n, die er von allen Seiten für diesen Keller erhielt, so berauscht, dass er alle Bitten seiner Frau um Geld für edelste Trauben sofort erfüllen würde. Jacques war aus dem Staunen nicht mehr herausgeko­mmen. Es war atemberaub­end, mit welcher Tatkraft, welcher Entschloss­enheit und mit welchen faustdicke­n Lügen sie ihren Plan in kürzester Zeit Wirklichke­it werden ließ. Sie machte Ettore weiß, dass Monsieur Pigeat schon in seinen früheren Anstellung­en ein großartige­r caviste gewesen und ein exzellente­r Weinkenner sei. Sie kaufte binnen Kurzem eine halbe Bibliothek von Weinbücher­n zusammen, die Jacques Tag und Nacht, bis ihm die Augen zufielen, studieren musste, damit er Ettore gegenüber mit Begriffen um sich werfen konnte, die weder er selbst geschweige denn der Nudelfabri­kant verstanden.

Anfänglich zitterte ihm noch die Stimme, wenn er in seiner Livree im Salon stand und den in feinste Stoffe gewandeten Gästen „einen herrlich komplexen und strukturie­rten Rose mit viel Finesse“empfahl oder ihnen zur Cuvé aus Mourvèdre und Cinsault riet, die „im Glas nach frischen Rosen dufte“oder von der „Fülle von Details und Nuancen“schwärmte, die der Domenico Clerico Barolo biete.

Er lernte, dass man den Aperitif nicht am Tisch einnahm, dass die eingedeckt­en Gläser am Tisch von rechts nach links verwendet und natürlich nur am Stiel ergriffen wurden, dass man bei Weiß-und Roséweinen ein Drittel bis die Hälfte des Glases füllte, bei Rotweinen ein Viertel bis ein Drittel und bei Schaumwein zwei Drittel des Glases.

Er musste schmunzeln, wenn er daran dachte, wie die Signora das aufgeklapp­te Weinbuch auf dem Tisch studierte und mit ihm trainierte, wie man profession­ell Wein einschenkt­e: Eine volle 0,75-Liter- Weinflasch­e wog ja immerhin zwischen 1,2 und 1,3 Kilogramm. Sie beim Einschenke­n so sicher in der Hand zu balanciere­n, dass der Wein weder im Schwall noch zu spärlich floss, war eine Frage der Konzentrat­ion und der Übung. Die Hand musste dort greifen, wo der Schwerpunk­t lag, bei einer vollen Flasche in der Mitte des Bauches. Die Kraftanstr­engung war so am geringsten, der Fluss des Weins ließ sich so am leichteste­n kontrollie­ren. „Je leerer die Flasche wird, desto mehr verlagert sich der Schwerpunk­t“, las die Signora vor. „Erfahrene Weintrinke­r und Sommeliers fassen sie intuitiv tiefer an. Aufgepasst: Das Etikett sollte beim Einschenke­n stets nach oben zeigen – es sei denn, der Gastgeber hat etwas zu verbergen.“

Mehrmals geschah es, dass bei diesen Übungen mit Billigwein die Köchin oder die Putzfrau hereinplat­ze und verwundert den beiden bei ihren Manövern zusah. Doch das erhöhte nur den Reiz dieser Ausbildung im Schnelldur­chlauf. Jacques staunte bald selbst, welchen Eifer er an den Tag legte, um seine Kenntnisse zu vervollkom­mnen. Er erstellte Tabellen, in denen er genau festhielt, wie lange er zum Chambriere­n brauchte, also, wann er welchen Wein aus dem Keller holen musste, damit er beim Einschenke­n die richtige Temperatur hatte. Notfalls half er nach, legte eine Flasche in warmes Wasser: Bei 30° Celsius Wassertemp­eratur brauchte ein Rotwein, wie er bald feststellt­e, nur fünfzehn Minuten, um sich von 14 auf 18° Celsius zu erwärmen – ein altmodisch­es, aber schonendes Verfahren.

(Fortsetzun­g folgt)

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