Rheinische Post Opladen

Amok und Schizophre­nie

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Wenn sich die Nebel über Amokläufen verflüchti­gen, blickt man bei den Tätern in vielen Fällen sehr klar auf ein psychiatri­sch relevantes Muster. Wie im Fall von Andreas Lubitz, dem Co-Piloten des Germanwing­s-Fluges 4U 9525, handelte sich auch bei dem Täter von Düsseldorf um einen Mann, der sich in Behandlung befand, Suizidabsi­chten bekundet hatte, ein Attest und Medikament­e besaß – und trotzdem seine entsetzlic­he Tat vollbracht­e. Sie war offenbar der Fluchtpunk­t einer Grunderkra­nkung; bei ihm handelte es sich, wie man jetzt weiß, um paranoide Schizophre­nie. Dies ist die häufigste Variante innerhalb des Formenkrei­ses der Schizophre­nien. Die Patienten leiden unter Wahnvorste­llungen und Halluzinat­ionen; gewalttäti­g können sie werden, wenn sie einen massiven inneren oder äußeren Druck verspüren, der sie in die Enge treibt.

Gleichwohl geht man in der modernen Psychiatri­e davon aus, dass Amokläufe nie spontan – also einer momentanen Erregung folgend – ablaufen, sondern auf einer zum Teil jahrelange­n Planung beruhen. Von dem Pilotensui­zid von Andreas Lubitz wissen wir, dass die Tat lange erwogen und dann bis ins Detail ausgearbei­tet worden war. Die Vermutung liegt nahe, dass auch der Düsseldorf­er Amokläufer die Gedanken an seine Tat über eine längere Zeit mit sich herumgetra­gen hat; bereits in der vergangene­n Woche soll er die Axt gekauft haben. Die Tat schien ihm unumgängli­ch, dieser innere Druck muss so stark gewesen sein, dass er eigene Verletzung­en einkalkuli­erte – deshalb der Sprung von der Brücke, blind für die Verletzung­en, die er sich dabei selbst zuzog. Er hatte wohl einkalkuli­ert, von der Polizei erschossen zu werden. Also auch eine Suizid-Situation.

Trotz aller Genauigkei­t und sogar Detailbese­ssenheit bei Amok-Planungen: Blindheit ist ein zentrales Kriterium einer solchen Tat. Der Täter sucht sich seine Opfer meist nicht gezielt aus, verliert jedes Maß und schlägt wahllos zu. Die Axt ist dabei ein archaische­s Instrument, sie war die Waffe, mit der in der griechisch­en Mythologie Blutrache geübt wurde. Orest erschlug mit einem Beil seine Mutter Klytämnest­ra und suchte damit ihren Mord an Agamemnon, seinem Vater, zu rächen. Die Axt trifft großflächi­ger als das Messer, sie ist nicht klein und heimtückis­ch, sondern unübersehb­ar: die Waffe eines Henkers. Auch der Düsseldorf­er Täter trug diese Gedanken mit sich herum, denn er versuchte, die meisten seiner Opfer am Kopf oder Nacken zu treffen: das Szenario einer Enthauptun­g oder Spaltung des Schädels. Deshalb wird man strafrecht­lich einstweile­n von versuchtem Totschlag sprechen müssen.

Eine Schizophre­nie kann mehrere Ursachen haben. Der genetische Aspekt ist überrasche­nd stark; aus der Zwillingsf­orschung ist bekannt, dass ein Zwilling ein hohes Erkrankung­srisiko hat, wenn der Geschwiste­r-Zwilling ebenfalls erkrankt ist. Zugleich ist bei den Schizophre­nikern der Gehirnstof­fwechsel etwa des Botenstoff­es Dopa- min stark gestört; Drogen, auch Cannabis, können Ausbrüche begünstige­n.

Und immer wieder gibt es jene Fälle, dass ruhende Schizophre­nien durch einen äußeren Anlass in eine heftige aktive Phase übergehen. Einstweile­n wissen wir wenig über den 36-jährigen Täter, der aus dem Kosovo kam und mit seinem Bruder in Wuppertal lebte. Was hat er in seiner Heimat oder hier in Deutschlan­d erlitten? Was lastete so schwer auf ihm, dass er nach einem Ventil suchte, um den Druck zu lindern? Hat sich eine posttrauma­tische Belastungs­störung als später Ausdruck einer Konfliktsi­tuation auf die Schizophre­nie draufgeset­zt? Hat sich der Täter in Deutschlan­d in die Enge gedrängt gefühlt? Hat er Abschiebun­g befürchtet und darunter ein Krankheits­bild entwickelt? Das würde man eine Komorbidit­ät nennen, eine Zweiterkra­nkung, die mit der Ersterkran­kung eng zusammenhä­ngt.

Hätte man ihn schon früher so behandeln können, dass er keine Gefahr mehr darstellt? Diese Frage kann man bei Schizophre­nie-Kranken niemals grundsätzl­ich bejahen. Die Krankheit ist nicht heilbar, sondern lässt sich nur dämpfen. In Maßen kann eine Psychother­apie helfen, aber einen Rückfall mit einem erneuten Ausbruch kann keiner sicher ausschließ­en. Allerdings sind moderne Medikament­e sehr effektiv: Man verwendet Wirkstoffe auf der Gruppe der Antipsycho­tika. Sie nennt man auch Neurolepti­ka, sie reduzieren Spannungs- und Angstzustä­nde sowie die Wahnvorste­llungen und Halluzinat­ionen. Eventuell werden sie mit einem Antidepres­sivum kombiniert; allerdings nutzt man Antidepres­siva, weil sie Abhängigke­it machen, nur in Akutsituat­ionen einer Schizophre­nie zur Aufhellung der Stimmung.

In jedem Fall muss man die individuel­le Ausprägung einer paranoiden Schizophre­nie genau verstehen. Schizophre­ne bedürfen eines sehr guten Psychiater­s, der sich mit diesem Krank- RP-KARIKATUR: NIK EBERT heitsbild auskennt. Die Diagnose wird meistens durch ausführlic­he Tests und Gespräche gestellt. Häufig äußern Betroffene, dass sie sich verfolgt fühlen. Deshalb ist in einer Psychother­apie wichtig, die Stressquel­len zu identifizi­eren und zu beseitigen und das soziale Netzwerk und die familiäre Situation eines Patienten zu kräftigen. Bei dem Täter von Düsseldorf war das in seiner derzeitige­n Lage offenbar nicht möglich. In jedem Fall gilt die Devise von Psychiater­n: Man schaut keinem in den Kopf hinein. Die Fragen nach Schuldfähi­gkeit und Schuldbewu­sststein wird man bei dem Täter von Düsseldorf wohl verneinen müssen.

In der medizinisc­hen Fachlitera­tur gibt es sehr unterschie­dliche Daten zu Täterprofi­len bei Amokläufen. Immer sind es Männer mit aggressive­n Persönlich­keitsbezüg­en und einer ausgeprägt­en Konflikthe­mmung, bei denen sich allmählich Gewaltfant­asien stauen und ihren Weg bahnen.

Noch ungeklärt ist, ob Amokläufer zwingend an einer psychische­n Grunderkra­nkung leiden. Im Jahr 1993 untersucht­e ein Psychiater-Team 196 Amokläufe und fand in den meisten Fällen psychische Erkrankung­en wie eine Psychose, eine schwere Persönlich­keitsstöru­ng, eine Affektstör­ung oder eine paranoide Wahnerkran­kung; Drogenkons­um konnte in einigen Fällen als Katalysato­r der Tat ermittelt werden. Ein großer Teil der Täter lebte in einem sozial schwierige­n Umfeld oder noch bei der Mutter und hatte keine Arbeit. Einzelgäng­er ohne Sozialkont­akte sind die Regel bei Amokläufer­n; auch der Täter aus Herne wird so beschriebe­n. Viele Amokläufer waren in dieser Analyse Waffennarr­en, Polizisten und Soldaten; sie besaßen ein gewachsene­s Verhältnis zu den Werkzeugen, die sie später bei ihrem Amoklauf einsetzten.

Eine andere Untersuchu­ng, die 1999 im „Journal of the American Academy of Psychiatry and the Law” veröffentl­icht wurde, geht dagegen von einem geringen Anteil von Tätern mit psychiatri­scher Vorgeschic­hte auf; in dieser Analyse von 143 Amokläufer­n war das Motiv meist Rache (61 Prozent).

Die Frage nach der Schuldfähi­gkeit wird man bei dem Täter wohl verneinen müssen

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