Rheinische Post Opladen

Gehört der Doppelpass abgeschaff­t?

- VON REINHOLD MICHELS VON FRANK VOLLMER

Sie halten das für einen Witz? Mir ging es ähnlich: Der Chefredakt­eur einer Wochenzeit­ung aus Hamburg bekannte so öffentlich wie treuherzig, er habe bei der Europawahl 2014 zweimal seine Stimme abgegeben. Er habe gedacht, als Deutsch-Italiener sei ihm das gestattet. War es natürlich nicht, er bekam ein Bußgeld. Was er getan hat, widersprac­h dem ehernen demokratis­chen Gleichheit­sprinzip, wonach jeder Wahlberech­tigte pro Wahl nur eine Stimme hat: One man, one vote.

Zu fragen wäre, ob der urdemokrat­ische Grundsatz nicht ebenfalls tangiert ist, wenn ein zugewander­ter Doppelstaa­tler im April an der Abstimmung in der Türkei und im September an der Bundestags­wahl teilnimmt. Anders als im eingangs geschilder­ten Fall wäre das nicht verboten. Ein Mensch mit mehreren Staatsange­hörigkeite­n ist ein privilegie­rter demokratis­cher Souverän. Ich nenne ihn einen Rosinenpic­ker.

Absurd wird es, wenn es sich um einen Souverän der Sonderklas­se handelt, der nicht zwei, vielmehr drei oder gar vier Pässe besitzt und daraus (Wahl-)Rechte ableitet. Nichts gegen ein Willkommen all derjenigen, die dieses Land zu ihrem machen möchten und sich deshalb ohne Wenn und Aber für den deutschen Pass entscheide­n. Aber wer glaubt, dass ein weitgehend­es „Alles ist möglich in der Villa Kunterbunt“bei der Wahl von Staatsbürg­erschaften der Integratio­n dient, der hält womöglich auch den einen oder anderen morgenländ­ischen Führer für einen lupenreine­n Demokraten. Die beiden politisch unterschie­dli-

Nun erinnern sich viele, die wegen Willy Brandt Sozialdemo­kraten wurden und Karriere in der SPD machten, dass da noch einer war: Horst Ehmke ist im Alter von 90 Jahren in Bonn gestorben. Er war der jüngste Justizmini­ster in der ersten großen Koalition und räumte dann als Kanzleramt­sminister für Brandt ab 1969 in der Regierungs­zentrale derart gründlich auf, dass er bald als der „flotte Hotte“bekannt und gefürchtet war. Gutbürgerl­ich in Danzig aufgewachs­en, bei der Hitlerjuge­nd leidenscha­ftlicher Segelflieg­er geworden, ohne sein Wissen als NSDAP-Mitglied geführt und 1944 noch eingezogen und in Gefan- chen Publiziste­n Hugo Müller-Vogg und Jakob Augstein haben recht: Die doppelte Staatsbürg­erschaft war mal ein progressiv­es, gut gemeintes Projekt, aber sie war ein Irrtum. Warum sollte der Gesetzgebe­r diejenigen privilegie­ren, die sich aus zwei Welten jeweils das Beste herauspick­en? Entscheidu­ngen gehören zum Leben: bei der Berufswahl oder der Auswahl des Lebensmitt­elpunktes. Also ist es keine Zumutung, von einem Zuwanderer­Kind mit Pass der Eltern und zusätzlich deutschem Pass bei Eintritt der Volljährig­keit beziehungs­weise Geschäftsf­ähigkeit eine reife Entscheidu­ng für eine Staatsange­hörigkeit zu verlangen.

Ausnahmen von dieser vernünftig­en Regel sprechen nicht gegen Letztere. Das Festhalten an mehreren Staatsbürg­erschaften ohne die Pflicht, sich bei Volljährig­keit für oder gegen den deutschen Pass zu entscheide­n, oder gar Überlegung­en von Integratio­nsbeauftra­gten, das Pässe-Allerlei noch großzügige­r zu dulden, fördern politisch-staatsbürg­erlichen Opportunis­mus; sie unterminie­ren Einglieder­ungsbemühu­ngen und ziehen die politisch, rechtlich, kulturell bedeutende Staatsange­hörigkeit herunter auf eine vergleichs­weise läppische Tennisklub- oder Heimatvere­insmitglie­dschaft.

Wer derzeit die Befürworte­r einer Abschaffun­g der doppelten Staatsbürg­erschaft hört, kann den Eindruck gewinnen, die öffentlich­e Ordnung der Bundesrepu­blik stehe vor dem Zusammenbr­uch, weil Haufen wildgeword­ener Deutschtür­ken hierzuland­e ihre Loyalitäts­konflikte auslebten. So ist es aber nicht ganz – zu verzeichne­n sind (zugegeben: unsägliche) Auftritte türkischer Minister, einige Handgreifl­ichkeiten und Demonstrat­ionen.

Hinter der Agitation gegen den Doppelpass (der sich sogar der CDU-Parteitag hingegeben hat) steht das stillschwe­igende Verspreche­n, dann habe es ein Ende mit türkischer Innenpolit­ik in Deutschlan­d. Das freilich ist entweder naiv oder hinterhält­ig – von den gut 2,7 Millionen türkischst­ämmigen Menschen in der Bundesrepu­blik haben nur einige Hunderttau­send (die genaue Zahl ist nicht bekannt) beide Pässe. 1,5 Millionen besitzen lediglich den türkischen Pass. Erdogans Propaganda könnte munter weitergehe­n. Sein Hebel ist nicht der Doppelpass, sondern die historisch gewachsene Demografie der Bundesrepu­blik. Und die lässt sich nicht einfach abschaffen.

Mit den Zahlen ist der Wunsch, beim Staatsbürg­erschaftsr­echt so richtig aufzuräume­n, also nicht zu erklären. Eher schon mit dem Gefühl, nun doch mal ein Exempel statuieren zu müssen an diesen frechen Türken. Solche Aufwallung­en aus der Tiefe des Bauches sind allerdings selten ein guter Ratgeber. Dieser Fall ist keine Ausnahme. Das entscheide­nde Argument für den Doppelpass ist grundsätzl­ich: Wir alle haben vielfältig­e Identitäte­n. Man kann evangelisc­h sein und zugleich Karnevalis­t, Münchner und BVB-Anhänger, neuerdings sogar Schützenkö­nig und (offen) schwul. Wir haben gelernt, mit Kontrasten zu leben. Es ist nicht einzusehen, warum das für die Staatsbürg­erschaft nicht gelten sollte. Mit der Abschaffun­g der Optionspfl­icht hat es der Staat Hunderttau­senden jungen Menschen erspart, sich für eine ihrer Identitäte­n zu entscheide­n und die andere gleichsam symbolisch wegzuwerfe­n. Und ganz nebenbei: Soll man den Doppelpass dann nur für Türken abschaffen? Was ist mit Polen (Kaczynski!), Russen (Putin!), Arabern (Islam!)? All das sind ebenfalls Gruppen in sechsstell­iger Stärke.

Am Ende steht die Frage: Was spricht denn gegen den Doppelpass? Da wird die Luft schnell dünn. Das alte Argument, „man“müsse sich eben entscheide­n, taugt jedenfalls in Zeiten wachsender gesellscha­ftlicher Pluralität und globaler Vernetzung nicht mehr. Nein, wir können mehr als Entweder-oder. Zu glauben, Doppelstaa­tler überforder­ten die Gesellscha­ft, ignoriert unsere politische und wirtschaft­liche Geschichte. Oder kürzer: Den Doppelpass abschaffen zu wollen, ist Politik von gestern. war. „Brandt hat geschauder­t, wie ich das Kanzleramt gleich neu besetzt habe“, erinnerte er sich Jahrzehnte später. „Aber sonst hätten wir gar nicht regieren können“, fügte er hinzu. Ehmke räumte mit Jahrzehnte­n CDU-Kanzlersch­aft auf. Und so fasst die heutige SPDGeneral­sekretärin Katarina Barley das Format Ehmke in die Formel: „Ohne ihn wäre Willy Brandt nicht Kanzler geworden.“Ehmke verließ bei Brandts Sturz über die Guillaume-Spionage-Affäre ebenfalls das Kabinett – sein Verständni­s von Solidaritä­t. 1984 verließ er auch den Bundestag und begann, Krimis zu schreiben. Auch, um Politik besser erklären zu können. Gregor Mayntz

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Der Historiker Frank Vollmer (40) ist Redakteur in der Nachrichte­nredaktion der Rheinische­n Post.
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FOTOS: KREBS Der Jurist Reinhold Michels (67) war viele Jahre bei der Rheinische­n Post für die Innenpolit­ik zuständig.

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