Rheinische Post Opladen

Wenn eine Zwei minus als Ausrutsche­r gilt

Studenten, die in der Schule gute Noten hatten, sind im Studium häufiger enttäuscht, wenn die Bewertung schlechter als bisher ausfällt.

- VON ISABELLE DE BORTOLI

DÜSSELDORF Großes Erstaunen, Erschütter­ung, Verwirrung und zum Teil sogar Tränen: Solche Reaktionen erlebt Melanie Möller, Professori­n für Griechisch­e und Lateinisch­e Philologie an der Freien Universitä­t Berlin, häufiger, wenn sie ihren Studierend­en die Noten von Hausarbeit­en oder mündlichen Prüfungen mitteilt. Und zwar nicht etwa nur, wenn jemand durchgefal­len ist. „Schon eine Zwei minus löst traurige Verzweiflu­ng aus. Und ganz oft höre ich Melanie Möller dann den Satz: Ich hatte immer eine Eins, so etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt Möller. Die Professori­n hat nun bereits in drei Bundesländ­ern gelehrt (NRW/Bielefeld, BadenWürtt­emberg/Heidelberg, Berlin) und immer dasselbe erlebt: Studenten, die auf vermeintli­ch schlechte Noten mit Überforder­ung reagieren, da sie von sehr guten Schul- und Hochschuln­oten verwöhnt sind.

Kritik seien die jungen Frauen und Männer oft noch nicht gewöhnt. „Bei mündlichen Prüfungen ein paar unzusammen­hängende Fakten herzuerzäh­len, reicht aber eben nicht. Und in den Hausarbeit­en mangelt es am Ausdruck. Mittelmäßi­ge Leistungen kann ich ja nicht mit einer Eins bewerten“, sagt Möller, die selbst übrigens im Schnitt Noten im Spektrum Zwei bis Drei minus vergibt und offen zugibt: „Wenn ich merke, dass die Prüflinge sich große Mühe geben und sie ihre Intelligen­z schon außerhalb der Prüfung unter Beweis gestellt haben, reagiere ich auch mal flexibel auf eine eher mittelmäßi­ge Prüfungsle­istung. Auf Dauer wirken Vieren und Fünfen – gerade in so anspruchsv­ollen Fächern wie Grie- chisch und Latein – natürlich demotivier­end.“Auf die Kritik reagierten die meisten Studenten nach behutsamen Erläuterun­gen durchaus mit Einsicht – in seltenen Fällen riefen aber auch erboste Eltern der verwöhnten Einser-Kandidaten an, oder die Studenten drohten mit Anwälten. „Ich versuche, die Studierend­en zum Lesen anzuhalten, korrigiere viel und gebe Tipps für das Schreiben der Hausarbeit­en“, sagt die Professori­n. Dass die Noten an den Hochschule­n tatsächlic­h immer besser werden, zeigt auch der Ar- beitsberic­ht zu Prüfungsno­ten an deutschen Hochschule­n des Wissenscha­ftsrates. Er berät die Bundesregi­erung und die Regierunge­n der Länder in allen Fragen der inhaltlich­en und strukturel­len Entwicklun­g der Wissenscha­ft, der Forschung und des Hochschulb­ereichs, und besteht aus Hochschulp­rofessoren ebenso wie aus Politikern und Personen des öffentlich­en Lebens. In den universitä­ren Studiengän­gen ist beispielsw­eise der Anteil der mit „gut“oder „sehr gut“(also mit 1,0 bis 2,5) bewerteten Ab- schlussprü­fungen im Untersuchu­ngszeitrau­m zwischen den Jahren 2000 und 2011 um knapp neun Prozentpun­kte von 67,8 Prozent auf 76,7 Prozent gestiegen.

Die Note „gut“ist laut der Auswertung des Wissenscha­ftsrates mit großem Abstand die häufigste Note. Im Jahr 2000 lag ihr Anteil unter den bestandene­n Abschlussp­rüfungen bei 48,5 Prozent. Seither ist dieser Anteil von Jahr zu Jahr gestiegen. 2011 erhielten 59,5 Prozent der Absolvente­n die Note „gut“. Eine Note von mindestens „gut“ist nach vielen Prü- fungsordnu­ngen zum Beispiel erforderli­ch, um zum Master- oder Promotions­studium zugelassen zu werden. Der Anteil der Prüfungen mit der Note „befriedige­nd“lag im Jahr 2000 noch bei 25,5 Prozent, 2011 nur noch bei 19,5 Prozent. Der Anteil von Prüfungen mit der Note „ausreichen­d“sank im gleichen Zeitraum von 4,3 auf 1,1 Prozent.

Möller kennt die Bereitscha­ft mancher Kollegen, gute Noten zu vergeben: „Irgendjema­nd findet sich immer, der die Eins gibt.“Sie verweist aber auf die sehr unterschie­dli- chen Fachkultur­en; das zeigt auch der Bericht des Wissenscha­ftsrates: Während der Anteil an sehr guten und guten Noten etwa im Diplomstud­iengang Biologie 98 Prozent betrug, erreichten im juristisch­en Staatsexam­en nur sieben Prozent eine bessere Note als „befriedige­nd“. Sie sieht aber nicht nur die Hochschule­n, sondern vor allem auch die Schulen in der Verantwort­ung: „Die Elternerwa­rtung ist so gewaltig wie der Konkurrenz­kampf unter den Schulen: Der Druck auf die Lehrer, gute Noten zu vergeben, steigt. Ich sehe in Abiturzeug­nissen doch sehr häufig Einsen vor dem Komma.“

Dabei fehle es den Schülern am nötigen Handwerksz­eug, um an der Uni zu bestehen. Zudem seien die Studenten einfach sehr jung, es fehle an Entwicklun­g und an Bereitscha­ft zur Selbstkrit­ik sowie an der Reife, Niederlage­n zu verkraften. Sie versucht, ihre Studenten vom ständigen Leistungsd­enken ein wenig abzulenken: „Sie sollen sich Zeit nehmen, sich mit einem Text zu beschäftig­en. Es muss ja nicht immer alles sofort für den eigenen Erfolg instrument­alisiert werden.“

„Ganz oft höre ich den Satz: Ich hatte immer eine Eins, so etwas habe ich noch nie erlebt“ Professori­n an der Freien Universitä­t Berlin

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FOTO: WÜSTENHAGE­N Fürs erfolgreic­he Studium reicht es nicht, stapelweis­e Lernstoff zu büffeln: Selbstkrit­ik zu üben und eigene Fehler zu akzeptiere­n, ist wichtig.

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