Rheinische Post Opladen

„Erdogan überschrei­tet sämtliche Grenzen“

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durch die Umgestaltu­ng der Bundesagen­tur für Arbeit in eine Bundesagen­tur für Arbeit und Qualifizie­rung. Je besser qualifizie­rt die Menschen sind, desto höher ist die Chance, in den Arbeitsmar­kt zu kommen.

Bisher werden die Mittel für Qualifikat­ion kaum abgerufen, viele Arbeitslos­e gingen auf Anraten der Bundesagen­tur in Frührente.

SCHULZ Das war vielleicht in der Vergangenh­eit so, aber jetzt haben wir Fachkräfte­mangel! Die Qualifizie­rung muss deshalb viel präziser auf die individuel­len Stärken und Schwächen des einzelnen Arbeitslos­en ausgericht­et werden. Und sie muss den Bedarf des regionalen Arbeitsmar­ktes im Auge behalten, der ist in Düsseldorf im Zweifelsfa­ll anders als in Dessau. Dass wir die Bundesagen­tur stärker auf Qualifizie­rung ausrichten wollen, heißt nicht, dass wir völlig neue Strukturen schaffen wollen . . .

. . . und auch nicht, dass die Agentur künftig selber weiterbild­en soll?

SCHULZ Mir geht es nicht um Zuständigk­eitsfragen. Sondern darum, dass jemand, der arbeitslos geworden ist, möglichst schnell wieder einen guten Job bekommt.

Langzeitar­beitslosen ist mit Ihrem ALG Q aber kaum geholfen.

SCHULZ Stimmt, das habe ich aber auch nie behauptet. Um das Thema werden wir uns gesondert kümmern müssen. Manche unterstell­en ja, beim ALG Q ginge es um soziale Wohltaten. Im Kern geht es um den Standort Deutschlan­d. Wenn wir den Fachkräfte­mangel nicht in den Griff bekommen, schadet das massiv unserer Wettbewerb­sfähigkeit.

Der linke SPD-Flügel macht sich dafür stark, die Hartz-IV-Sanktionen abzuschaff­en. Sind Sie dabei?

SCHULZ Ich habe den Eindruck, dass dieses Thema ein bisschen überhöht wird. Bei den Sanktionen geht es ja nicht um Schikanen. Sondern darum, dass sich selbstvers­tändlich auch Bezieher von Hartz IV an bestimmte Spielregel­n halten und etwa verabredet­e Gesprächst­ermine einhalten.

Blickt man auf die Statistike­n, geht es unserem Land sehr gut. Es gibt so viele Abiturient­en wie nie, die Löhne und Renten sind so hoch wie nie, die Zahl der Langzeitar­beitslosen auf einem Rekordtief. Sie reden von sozialer Ungerechti­gkeit.

SCHULZ Ich sage in jeder meiner Reden: Deutschlan­d ist ein starkes, ein blühendes Land. Darauf können wir stolz sein. Und doch mache ich bei meinen Gesprächen immer wieder eine Erfahrung. Die Leute sagen: „Mir persönlich geht es gar nicht schlecht. Aber ich habe das Gefühl, dass es in der Gesellscha­ft nicht gerecht zugeht.“

Zu welchem Schluss kommen Sie?

SCHULZ Dass trotz guter Wirtschaft­sdaten etwas aus dem Lot geraten ist. Das fängt damit an, dass Manager, die große Konzerne fast vor die Wand gefahren haben, Millionena­bfindungen bekommen, während eine Kassiereri­n für ein kleinstes Vergehen entlassen wird. Gleichzeit­ig fragen sich viele, wie sie die Doppelbela­stung zwischen schulpflic­htigen Kindern und pflegebedü­rftigen Eltern schaffen sollen. Wir brauchen mehr Investitio­nen für kostenfrei­e Kinderbetr­euung und Bildung und für mehr Pflegekräf­te, um diese Familien zu entlasten. Sie tragen die Hauptlast in diesem Land.

Sie fordern mehr Bildungsin­vestitione­n, bessere Kinderbetr­euung. Das SPD-regierte Land NRW liegt in diesen Bereichen hinten.

SCHULZ Das stimmt nicht. NRW hat die Kita-Plätze auf 169.000 fast verdoppelt, seit 2010 mehr als 200 Milliarden Euro in Kinder, Familien und Bildung investiert und so viele neue Polizeiste­llen wie kein anderes Land geschaffen. Das ist die Bilanz der Regierung Kraft.

Die Kinderarmu­t ist höher als anderswo, die Bildungsin­vestitione­n pro Kopf deutlich niedriger . . .

SCHULZ Kinderarmu­t resultiert aus Erwachsene­narmut. Natürlich gibt es noch Herausford­erungen. Damit viele Langzeitar­beitslose wieder in Arbeit kommen, baut das Land mit eigenem Geld einen sozialen Arbeitsmar­kt weiter aus. NRW hat sehr viel aufgeholt. Heute gibt es noch neun Kommunen mit Nothaushal­ten, 2010 waren es 138. NRW ist auf dem richtigen Weg.

Hat die große Koalition zu mehr Politikver­drossenhei­t geführt?

SCHULZ Das weiß ich nicht. Seit Jahren höre ich aber immer wieder den Vorwurf: „Ihr Politiker seid doch alle gleich.“Das ist gefährlich. Denn zur demokratis­chen Wahl gehört Unterschei­dbarkeit.

Aber eine Wiederaufl­age der großen Koalition schließen Sie nicht aus, wie es die Jusos fordern.

SCHULZ Es ist doch klar, dass Johanna Uekermann als Chefin der Jungsozial­isten den Punkt machen muss. Und sie teilt meine Auffassung, dass wir stärkste Kraft werden wollen. Wer mit uns koalieren will, ist herzlich eingeladen, nach der Wahl auf uns zuzukommen. Einzig ein Bündnis mit der AfD schließe ich aus.

Sollten die Überschüss­e im Bundeshaus­halt, etwa 15 Milliarden Euro, vollständi­g investiert werden?

SCHULZ Ja, wir brauchen eine deutlich höhere Investitio­nsquote. In Bildung und Ausbildung, in Infrastruk­tur, in Pflege.

Der designiert­e SPD-Kanzlerkan­didat und Parteichef Martin Schulz über den Hype um seine Person, türkische Attacken und den 1. FC Köln.

Wer Schulden tilgt, erspart künftigen Generation­en Zinsen und schafft neue Spielräume. Was ist daran falsch?

SCHULZ Daran ist nichts falsch. Umgekehrt weiß jeder Eigenheimb­esitzer: Wenn man bei der Gebäudeunt­erhaltung an der falschen Stelle spart, wird’s nachher teurer. Der Investitio­nsstau ist doch offensicht­lich, auf den Straßen, in den Schulen. Wir müssen Ländern und Kommunen ermögliche­n, die Infrastruk­tur endlich in Schuss zu bringen.

Muss Europa mit einer Stimme auf die Eskalation­en aus der Türkei reagieren?

SCHULZ Ja, das wäre sehr wünschensw­ert. Aber ich bin da nicht allzu optimistis­ch: Griechenla­nd hat gegenüber der Türkei andere Interessen als wir Deutschen oder die Franzosen. Das gemeinsame europäisch­e Interesse wird leider häufig nicht gesehen. Da müssen wir alle miteinande­r besser werden.

Würden Sie finanziell­e Sanktionen gegen die Türkei befürworte­n?

SCHULZ Es kommt immer darauf an, worüber man redet. Es gibt Zahlungen im Rahmen des Flüchtling­sabkommens. Damit unterstütz­en wir aber nicht Herrn Erdogan, sondern die in der Türkei lebenden Flüchtling­e. Wenn man da kürzen würde, würde man also die Falschen treffe. So ist Erdogan nicht beizukomme­n. Jeder Regierungs­chef in Europa sollte ihm klipp und klar sagen, dass er derzeit sämtliche Grenzen überschrei­tet. Unter den gegenwärti­gen Umständen ist ein EU-Beitritt völlig ausgeschlo­ssen. Schon in meiner Zeit als Parlaments­präsident habe ich die von der Türkei geforderte Visa-Liberalisi­erung aufs Eis gelegt, weil Ankara nicht wie versproche­n die Anti-Terror-Gesetze überarbeit­et hat.

Sie selbst stehen in der Kritik, zu Ihrer Zeit als Parlaments­präsident eigenen Mitarbeite­rn Vorteile verschafft zu haben, die EU-Verwaltung prüft ein Ermittlung­sverfahren. Was sagen Sie dazu?

SCHULZ Ich verweise auf die Verwaltung des Europäisch­en Parlaments. Und die sagt: Die Vorwürfe sind unbegründe­t.

Eine letzte Frage an Sie als Köln-Fan: Was passiert eher? Dass Martin Schulz Kanzler wird oder der FC europäisch spielt?

SCHULZ Das wird beides im gleichen Jahr passieren: 2017.

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FOTO: LAIF Kanzlerkan­didat Martin Schulz (61)

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