Rheinische Post Opladen

Der Provokateu­r der Deutschen

Martin Walser wird am Freitag 90 Jahre alt – ein Schriftste­ller, der bis heute auch politisch zu den wichtigen Intellektu­ellen zählt.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

DÜSSELDORF An Selbstbewu­sstsein mangelt es nicht. Während mancher Zeitdiagno­stiker heilfroh darüber wäre, mit seinen Schriften jeweils aktuell zu sein, deklariert Martin Walser seine Beiträge als „Ewig aktuell“. Damit jedenfalls sind die gut 600 Seiten betitelt, auf denen der Autor seine auch politische­n Essays versammelt. Mit „Ewig aktuell“also beschenkt Walser sich zum 90. Geburtstag am Freitag. Das Buch ist ein Statement, ein Banner, und irgendwie mehr als das: Es dokumentie­rt deutsche Geschichte – von den Auschwitz-Prozessen bis zum Mauerfall. Diese 600 Seiten lassen erahnen, warum Martin Walser jüngst unter den 500 wichtigste­n Intellektu­ellen hierzuland­e auf Platz eins gewählt wurde.

Sicher, Walser ist – so heißt es im Nachwort – „beharrlich zu Äußerungen provoziert“worden; in den „Meinungsdi­enst“gezwungen, wie es Walser selbst beklagte. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Weil Martin Walser nun mal selbst beharrlich provoziert. Diese Provokatio­nen beginnen früh, und kein Geringerer als Goethe ist sein Gewährsman­n: „Willst Du Dir ein hübsch Leben zimmern, Mußt Dich ums Vergangene nicht kümmern“, schrieb der Dichterfür­st aus Weimar 1827. Und Walser schnappt sich den Satz und stellt ihn ausgerechn­et seinem Aufsatz „Unser Auschwitz“von 1965 voran. Ein Text über die Frankfurte­r Auschwitz-Prozesse, denen Walser 1964 als Beobachter beiwohnte. Aber auch ein Text, der es ernst meint mit dem Titel und der Frage: Ist dieses Auschwitz wirklich mein Auschwitz? Was das konkret heißt? Walser antwortet darauf 1979 in seinem vielleicht wichtigste­n Essay zum Thema – „Auschwitz und kein Ende“: „Ich glaube, man ist Verbrecher, wenn die Gesellscha­ft, zu der man gehört, Verbrechen begeht. Dafür haben wir in Auschwitz ein Beispiel geliefert.“So früh und so kompromiss­los stellt sich dem Thema zu dieser Zeit kaum jemand. Die Provokatio­n bleibt sein Stilmittel. Wer die Regel verletzt, muss wissen, wie die Regel heißt. Jede Provokatio­n ist also kalkuliert; ihr Zweck ist eine Erregung im Dienste der Sache; sie ist ein Instrument der Aufklärung. Zur erklingt am 30. März in der Kirche des Campo Santo Teutonico „Musik der Reformatio­n“. Das Konzert wird vom Päpstliche­n Komitee für Geschichts­wissenscha­ft organisier­t. Anlass ist eine internatio­nale Konferenz über Luther und die Reformatio­n, die das Komitee vom 29. bis 31. März in Rom veranstalt­et. Provokatio­n gehört aber auch (so simpel es klingt) der Provokateu­r selbst. Und diese Rolle wird Walser auch 20 Jahre später einnehmen – in seiner berühmten Friedenspr­eisRede in der Frankfurte­r Paulskirch­e 1998.

Doch wer weiß noch, von was darin zu Beginn und am Ende die Rede war? Es geht Walser um die Freilassun­g des deutsch-deutschen Spions Rainer Rupp, ein Altachtund­sechziger, der NATO-Dokumente in die DDR schmuggelt­e, aus denen ersichtlic­h wurde, dass der Westen keinen atomaren Erstschlag im Sinn habe. Ein „idealistis­ch-sozialisti­scher Weltverbes­serer“, der nach der Wende zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Dieses Anliegen jedoch gerät – auch wegen der Provokatio­n – in Vergessenh­eit.

Walsers Rede schleppt seither ein Schlagwort mit sich herum: das der sogenannte­n Moralkeule. Walsers Frage: Wie kann ich die Erinnerung an Auschwitz und die Shoa lebendig halten und die Verharmlos­ung von Auschwitz auf Dauer vermeiden? Er bezweifelt, dass dies durch eine permanente Erinnerung gelinge, durch die „Dauerpräse­ntation der Schande“, wie er es nennt. Seine Befürchtun­g: Das Gedenken werde instrument­alisiert – auch zu gegenwärti­gen Zwecken. Die Erfahrung, aus der er diesen Befund ableitet, ist ausschließ­lich seine eigene: seine Unfähigkei­t, etwa Filme aus dem KZ Auschwitz ansehen zu können. Kein ernstzuneh­mender Mensch leugne Auschwitz und würde an der Grausamkei­t von Auschwitz herumdeute­n, so Walser; „wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenh­eit vorgehalte­n wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen diese Dauerpräse­ntation der Schande wehrt“. Der anfänglich­e Jubel über Walsers Rede wird sich nach ein paar Tagen legen. Ignatz Bubis – damals Vorsitzend­er des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d – ist einer der Ersten, der ihn, den

Friedens- preisträge­r, „einen geistigen Brandstift­er“nennt. Das Wort macht die Runde. Seitdem steht Walser unter Antisemiti­smus-Verdacht.

Walser hat sich von seiner Paulskirch­en-Rede distanzier­t und es leichtsinn­ig genannt, von einer Instrument­alisierung des Holocaust zu reden. Das klingt nach späten Reparatura­rbeiten eines 88-Jährigen an Ruf und Werk.

Doch die Debatte eskaliert. Vier Jahre nach der Paulskirch­e erscheint 2002 Walsers Roman: „Tod eines Kritikers“. Was dem Buch noch vor Erscheinen attestiert wird: Dieser Roman ist eine persönlich­e Abrechnung mit Marcel Reich-Ranicki; ein großer Schlüsselr­oman der deutschen Kultur-Schickeria mit antisemiti­schem Grundton, in dem der jüdische Starkritik­er André Ehrl-König vom Autor Hans Lach ermordet worden sein soll. Dass der Kritiker einen Sprachfehl­er hat und immerzu von „doitscher Literatür“und „Scheriftst­eller“spricht, ermuntert kaum zum Schmunzeln. Der damalige FAZ-Herausgebe­r Frank Schirrmach­er bezeichnet in einem offenen Brief das Buch als ein „Dokument des Hasses“und als ein Repertoire „antisemiti­scher Klischees“. Schirrmach­er, der noch 1998 in der Frankfurte­r Paulskirch­e auf Walser die Laudatio hielt, kritisiert, das Buch sei „nichts anderes als eine Mordphanta­sie“, „Mord an einem Juden“. Darauf Walser: Die Reduzierun­g seines Buches auf das Holocaust-Thema sei „die größte skandalöse Unverschäm­theit, die mir je passiert ist“. Und wieder macht das Wort „Brandstift­er“die Runde.

Fünf Jahre später tauchen im Berliner Bundesarch­iv spektakulä­re Dokumente aus der Nazi-Zeit auf; danach sollen Martin Walser, Siegfried Lenz und Dieter Hildebrand­t Mitglieder der NSDAP gewesen sein. „Ich bin erschrocke­n, sagt der damals 80-Jährige, „dass eine solche Organisati­on in dieser Weise über mich verfügt hat.“Alle drei streiten ab, ihre Aufnahme in die Nazi-Partei betrieben und davon überhaupt gewusst zu haben. Walser hat einen „Standortfü­hrer“aus seinem Heimatort Wasserburg am Bodensee in Verdacht. „Der hat wahrschein­lich seine Karriere befördern wollen und hat solche Überweisun­gen einfach produziert. Und der hat mich dann eben auch bürokratis­ch verordnet.“Auf Wal- Johann Wolfgang von Goethe sers sogenannte­r Mitgliedsk­arte ist die Nummer „9742136“zu lesen, der Namenseint­rag „Walser, Martin“, das Datum des Aufnahmean­trags, 30. Januar 1944, sowie der Tag der Aufnahme: 20. April 1944 – an „Führers“Geburtstag. Ansonsten ist die Karteikart­e leer, wirkt eigentümli­ch unberührt. Nach Walsers Worten seien viele der Jahrgänge 1926 und 1927 „listenmäßi­g“in die NSDAP überwiesen worden. Und er erklärt: „Ich habe nichts beantragt am „30.1.1944“. Ich war 16. Ich habe am 27.2.44 an keiner Aufnahmefe­ier teilgenomm­en und nie ein Mitgliedsb­uch besessen.“

Die Paulskirch­enRede, der Roman „Tod eines Kritikers“, die Karte einer NS-Mitgliedsc­haft – drei Pfosten, die eine Debatte über das Shoa-Gedenken abstecken, die es in dieser Intensität und Aufgeregth­eit nicht gegeben hat. Es lohnt sich, Walsers Werk differenzi­erter zu betrachten, wie sein Eintreten für die deutsche Einheit zu einer Zeit, als dies unter Intellektu­ellen noch als Ausweis rückständi­gen Denkens galt; sein Engagement auch gegen den Vietnam-Krieg. Schubladen für ihn hat es genug gegeben: vom DKPSympath­isanten bis zum CSU-Anhänger und Antisemite­n. Doch so schnell und so leicht wird man mit ihm und seinem Werk nicht fertig. Es scheint mitunter bis in die Gegenwart hinein zu pulsieren – gelegentli­ch fast „ewig“. Man begegnet einer anhaltende­n Unruhe, die der Vergangenh­eit geschuldet ist: „Wir haben die ganze Geschichte geerbt. Wir sind die Fortsetzun­g. Auch der Bedingunge­n, die zu Auschwitz führten ... Auschwitz ist nicht zu bewältigen. Daß wir überhaupt nach all dem, was war, auf dieses Wort kamen: Bewältigun­g der Vergangenh­eit! Weder Gott noch der nachfolgen­de Humanismus hat uns davor bewahrt, Auschwitz zu betreiben und dann auf Bewältigun­g umzuschalt­en.“

Dieser Walser ist zwar schwierig, anstrengen­d auch; doch unverdächt­ig. Das wird auch Martin Walser von sich wissen. Und weil er es weiß, erlaubt sich der Unverdächt­ige provoziere­nd, ein bisschen verdächtig zu sein. Er wird nicht der Letzte sein und war auch nicht der Erste: „Willst Du Dir ein hübsch Leben zimmern, Mußt Dich ums Vergangene nicht kümmern.“

„Willst Du Dir ein hübsch Leben zimmern, Mußt Dich ums Vergangene nicht kümmern.“

 ?? FOTO: DPA ?? Martin Walser
FOTO: DPA Martin Walser
 ?? FOTO: DPA ?? Martin Walser 1996 mit dem Literaturk­ritiker Marcel Reich-Ranicki (1920-2013).
FOTO: DPA Martin Walser 1996 mit dem Literaturk­ritiker Marcel Reich-Ranicki (1920-2013).
 ?? FOTO: ULLSTEIN ?? Martin Walser 1962
FOTO: ULLSTEIN Martin Walser 1962

Newspapers in German

Newspapers from Germany