Rheinische Post Opladen

Erdogans Parallelge­sellschaft

- VON MICHAEL BRÖCKER

Erdogans Sieg ist knapp, ohne Glanz. Und schmutzig. Daran kann man nicht ernsthaft zweifeln. Zu viele Ungereimth­eiten an den Wahlurnen, etwa die Sache mit den ungestempe­lten Umschlägen, die plötzlich gültig waren, oder die offenen und versteckte­n Drohungen, die Anhänger der Opposition erleben mussten. Die OSZE stellte gestern nüchtern klar, dass die Opposition keine gleichen Bedingunge­n im Wahlkampf hatte. Mit anderen Worten: Es gab keine faire Wahl.

Wer hatte auch etwas anderes erwartet? Erdogan brauchte diesen Sieg zu sehr, als dass er zugelassen hätte zu verlieren. Seine Eskalation­s-Taktik, die Polarisier­ung und die nationalis­tischen „Wir gegen den Rest der Welt“-Sprüche zeigten, dass er sich nicht sicher war, ja vielleicht Angst vor der Niederlage hatte.

Recep Tayyip Erdogan ist ein lupenreine­r Autokrat. Er nutzte erst den Putschvers­uch, um sich missliebig­er Kritiker unter dem Terror-Vorwand zu entledigen. Im Wahlkampf für das Referendum überzog er aus dem Amt heraus mit staatliche­n Mitteln das Land mit seiner Kampagne und ließ Gegner einschücht­ern, wie unzählige Betroffene schilderte­n. Mit der Verfassung­sänderung ersetzt er nun die säkulare, nach Westen orientiert­e Republik Atatürks durch die Alleinherr­schaft eines islamische­n Konservati­ven. Er schafft die Gewaltente­ilung de facto ab. Der Präsident bestimmt künftig die Mehrzahl der Verfassung­srichter, er kann jederzeit das Parlament auflösen und den Ausnahmezu­stand verlängern. Das türkische Präsidials­ystem gleicht der „gelenkten Demokratie“Putinschen Zuschnitts. Mit dem Präsidials­ystem der USA ist es nicht vergleichb­ar.

Wer nun immer noch der Meinung ist, die EU solle „ergebnisof­fen“mit der Türkei über den Beitritt verhandeln, sollte sich die Präambel der europäisch­en Verträge noch einmal durchlesen. Nein, die EU würde ihre Prinzipien verraten. Die Türken können ihr Staatssyst­em umbauen, wie sie wollen, und wählen, wen sie wollen. Das ist ihr gutes Recht. Aber es ist eben auch das gute Recht der EU, nur Mitgliedsl­änder zu akzeptiere­n, deren Repräsenta­nten grundlegen­de Werte teilen. Ein Staatschef, der Meinungsun­d Pressefrei­heit als skurrile Eigenarten verweichli­chter Demokratie­n abtut, gehört nicht dazu.

Bitter für jene Türken, die trotz der Bedrohungs­lage mit „Nein“gestimmt haben und sich eine pro-europäisch­e Zukunft wünschten. Die Anti-ErdoganTür­kei ist stark, sie lebt. Das ist die gute Nachricht.

Die besonders schlechte Nachricht für uns ist, dass die in Deutschlan­d lebenden Türken, die abgestimmt haben, mehrheitli­ch Erdogan gefolgt sind. In Dortmund, Hamburg und Düsseldorf obsiegten die Anhänger einer Verfassung­sänderung, während sie übrigens in Istanbul unterlagen. Was läuft falsch, wenn Deutschtür­ken einen autoritäre­n Umbau ihres Heimatland­es begrüßen, einem Mann huldigen, der kritische Journalist­en und Opposition­elle einsperren lässt, während sie hier zugleich alle Vorzüge einer freiheitli­chen, pluralisti­schen Demokratie genießen?

Diese Deutschtür­ken sind offensicht­lich nicht angekommen, nicht integriert. Mehr noch: Ihr Votum offenbart, dass sie es sich in ihrer Parallelge­sellschaft gemütlich gemacht haben. Wenn das kein Konjunktur­programm für Rechtspopu­listen und Fremdenfei­nde ist.

Der Allparteie­n-Integratio­nskonsens der vergangene­n Jahrzehnte – viel fördern, wenig fordern – ist jedenfalls an einem beträchtli­chen Teil der hier lebenden Türken abgeprallt. Die Probleme sind unterschie­dlicher Natur und Intensität, aber sie sind da: Ditib-Spione, Missachtun­g staatliche­r Autorität, Scharia-Fans und Frauenverä­chter. Das Mehrheitsv­otum für den Sultan vom Bosporus rückt diese Beispiele verfehlter Integratio­nspolitik in den Vordergrun­d und verstellt den Blick auf Hunderttau­sende engagierte und integriert­e Doppelstaa­tler. Deutschlan­d muss seine Integratio­nspolitik neu justieren. Am besten helfen dabei übrigens die Türken, die mit den gerade genannten Themen nichts zu tun haben wollen. BERICHT TÜRKISCHE OPPOSITION FORDERT. . ., TITELSEITE

Newspapers in German

Newspapers from Germany