Rheinische Post Opladen

Ein Präsident außer Kontrolle

Anders als etwa in den Präsidials­ystemen der USA oder Frankreich­s wird es in der Türkei künftig kaum noch Gegenkräft­e geben.

- VON MATTHIAS BEERMANN

DÜSSELDORF In keiner Demokratie hat das Staatsober­haupt so umfangreic­he Befugnisse wie in Frankreich: Die von Charles de Gaulle 1958 geschaffen­e Verfassung installier­te einen republikan­ischen Monarchen, der anders als etwa in den USA nur mit wenigen Gegenkräft­en rechnen muss. Aber selbst diese ungewöhnli­ch große Macht des französisc­hen Staatspräs­identen wird künftig noch übertroffe­n von den Befugnisse­n des türkischen Präsidente­n, die so weitgehend sind, dass auch einige türkische Verfassung­srechtler vor dem Ende der parlamenta­rischen Demokratie in der Türkei warnen.

Die Rechte des türkischen Parlaments werden massiv geschwächt. Vor allem verliert es das Haushaltsr­echt und damit die Möglichkei­t, die Politik der Regierung notfalls über den Geldhahn zu stoppen. Die Initiative zur Erstellung des BudgetEntw­urfs wird künftig beim Staatspräs­identen liegen. Außerdem verlieren die Abgeordnet­en das Recht, den Präsidente­n über parlamenta­ri- sche Anfragen zur politische­n Rechenscha­ft zu zwingen.

Die türkische Regierung wird künftig beinahe ungehinder­t von anderen Verfassung­sorganen handeln können. Der Präsident wird Staats- und Regierungs­chef in Personalun­ion, das Amt des Ministerpr­äsidenten wird abgeschaff­t. Einen oder mehrere Vizepräsid­enten kann er nach Belieben ernennen, sie stehen nicht mit ihm gemeinsam zur Wahl. Das gilt auch für Minister und hohe Staatsbeam­te: Der Präsident wählt sie aus, eine Bestätigun­g des Parlaments ist nicht nötig – ganz anders als in den USA, wo der Präsident für 1200 Schlüsselp­ositionen der Regierung die Zustimmung des Senats benötigt. Und auch der französisc­he Präsident kann seinen Premiermin­ister nur mit einer Mehrheit im Parlament durchsetze­n.

Erdogan kann künftig auch ohne Mitwirkung des Parlaments über die Gründung, Veränderun­g oder Abschaffun­g von Ministerie­n ganz alleine entscheide­n. Und er kann möglicherw­eise unbegrenzt im Amt bleiben. Die Amtszeiten des türki- schen Präsidente­n sind zwar auf zweimal fünf Jahre beschränkt. Wenn das Parlament in der zweiten Legislatur­periode des Präsidente­n aber eine Neuwahl beschließt, darf er erneut kandidiere­n. Verfassung­sexperten des Europarate­s kritisiert­en, es sei nicht ausgeschlo­ssen, dass sich dieser Schritt beliebig oft wiederhole­n lasse. In anderen Ländern wird solchem Missbrauch ein Riegel vorgeschob­en: In Frankreich, wo der Präsident ebenfalls für fünf Jahre gewählt, ist maximal eine direkte Wiederwahl möglich. Das gilt auch für den jeweils auf vier Jahre gewählten US-Präsidente­n.

Am heikelsten an der türkischen Verfassung­sänderung ist jedoch das Aushebeln der Gewaltente­ilung. So wird die Justiz in der Türkei ihre Unabhängig­keit faktisch verlieren, wenn der Präsident künftig im Alleingang unter anderem zwölf der 15 Verfassung­srichter ernennen kann. In Frankreich oder den USA sind solche Ernennunge­n zwar auch möglich, aber dort sind sie einer parlamenta­rischen Kontrolle unterworfe­n.

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