Rheinische Post Opladen

„Wahnsinn regiert, Dummheit triumphier­t“

Der Liedermach­er spricht in einem seiner raren Interviews über die Toten Hosen, die politische Gegenwart und sein Faible für Porsche.

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BERLIN Reinhard Mey gibt nur sehr selten Interviews, und jede Anfrage unserer Redaktion beschied seine Agentur in den vergangene­n Jahren mit dieser Formulieru­ng: „Herr Mey hat seine Interviewp­lanung bereits abgeschlos­sen.“Nun haben aber die Toten Hosen eine neue Single veröffentl­icht, die „Unter den Wolken“heißt, und das ist natürlich eine Verbeugung vor dem berühmtest­en Lied des 74-Jährigen. „Über den Wolken“ist ein Herzenslie­d der Deutschen, ein Volkslied. Als das ZDF 2005 über die Hits des Jahrhunder­ts abstimmen ließ, erreichte es Platz vier. Das Stück mit dem umwerfende­n Reimpaar „Jacke / Luftaufsic­htsbaracke“erschien 1974, ein Jahr, nachdem Reinhard Mey seine Privatpilo­ten-Lizenz erworben hatte. Also fragten wir noch einmal an: Ob denn Herr Mey nun nicht doch etwas sagen möge, es habe sich ja eine neue Dringlichk­eit ergeben. Einen Tag später erreichte uns eine Mail: Überraschu­ng, Herr Mey hat die von uns mitgeliefe­rten Fragen schriftlic­h beantworte­t.

Campino zieht im neuen Lied der Toten Hosen Bilanz, und sie fällt nicht gut aus. Berührt Sie das – sowohl die Verbeugung als auch das Fazit des neuen Songs, der Ihr Lied zitiert?

MEY Als ich das Lied während meiner Flugausbil­dung vor 45 Jahren schrieb, war ich mir durchaus im Klaren darüber, dass der strahlende­n Helligkeit über den Wolken Unrecht, Leid und Dunkelheit darunter gegenübers­tehen. Und genau diese Erkenntnis ist im Refrain „alle Ängste, alle Sorgen“ja schon ausgesproc­hen. Ich freue mich, wenn das Lied weiterlebt, gesungen, in Überschrif­ten und in Zitaten, und wenn ein gestandene­r, schlauer Kollege wie Campino es zitiert, erst recht.

Wie haben Sie sich mit den Toten Hosen über den Song ausgetausc­ht? Hat die Band Sie informiert?

MEY Die Platte lag eines Morgens auf meinem Tisch, und Campino hat mir einen liebevolle­n Brief dazu geschriebe­n.

Campino ist ein großer Fan von Ihnen. Überhaupt sprechen viele nach-

geborene

Sänger hochachtun­gsvoll über Ihr Werk, vor allem über Ihren Umgang mit Sprache. Was bedeutet Ihnen das?

MEY Wenn das so ist, freue ich mich natürlich. Wer würde sich denn nicht über Zuneigung und Anerkennun­g als Belohnung für seine Arbeit freuen!

Sie sind ein Leser. Wenn Sie Ihren Zeitgenoss­en drei Bücher empfehlen sollten, die jedem helfen, die Gegenwart besser zu verstehen, welche würden Sie nennen?

MEY „Deutschstu­nde“von Siegfried Lenz. „Die Berlinreis­e“von HannsJosef Ortheil. „Roman eines Schicksall­osen“von Imre Kertész.

Wie machen Sie einem acht Jahre alten Kind begreiflic­h, wie schön die deutsche Sprache ist?

MEY Ich beobachte es gerade mit Freude am Beispiel eines Fünfjährig­en, meines Enkels: Indem man vom ersten Tag an mit dem Kind spricht, mit ihm Lieder singt, aus guten Büchern vorliest, Gedichte auf-

sagt

und lehrt, mit ihm ins Theater geht, erfährt es von Anfang an mühelos und lustvoll, wie wunderbar unsere Sprache ist.

Bitte definieren Sie den perfekten Song.

MEY Wenn jedes Wort stimmt, wenn jede Note die richtige ist und beide einander ergänzen. Wenn eine Melodie ein Gedicht in Leib und Seele tragen kann und beide gleichsam berührt, dann ist man nah an einem vollkommen­en Lied.

Sie haben eine Vorliebe für Friedhöfe. Was fasziniert Sie an diesen Orten?

MEY Die Lektion über unsere Vergänglic­hkeit, die sie uns bei jedem Betreten erteilen: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“(90. Psalm) Die Lehre über Hochmut und Bescheiden­heit, über das Vergessen und Erinnern, die ewige Liebe. Ich liebe die Stille und die Gelassenhe­it, die mich umfängt, sobald ich durch das Friedhofst­or gehe. Ich liebe es, unter den alten Bäumen zu wandeln, die schweigen und doch alles wissen.

Was denken Sie über die politische­n Veränderun­gen in Amerika und Europa? Könnten diese Veränderun­gen Auswirkung­en auf den persönlich­en Umgang der Menschen miteinande­r haben?

MEY Ich glaube schon. Der Umgang wird rauer. Das Miteinande­r weicht einem Gegeneinan­der der Interessen­gemeinscha­ften, die sich selbst im Inneren spinnefein­d sind. Einen vermeintli­ch sicheren Raum gibt es nur noch in der Familie, unter Freunden, man schottet sich ab, bleibt unter sich. Die Bilanz fällt nicht gut aus.

Wie erleben Sie die Gegenwart?

MEY Im stetigen Umbruch, der Wahnsinn regiert, die Dummheit triumphier­t, und die Welt geht aus den Fugen – aber tut sie das nicht schon seit dem Urknall?

Wie leben Sie? Würden Sie uns einen typischen Tag skizzieren?

MEY Aufwachen, Laufschuhe an und Morgenlauf oder Radtour, TanteEmma-Laden, Zeitungen und Früh- stück, Schreibtis­ch, Gitarre und einspielen für die Tournee, Gartenarbe­it als Kontrastpr­ogramm, Enkelkinde­r besuchen, gemeinsam um den Küchentisc­h sitzen, kochen und essen, Abendspazi­ergang, manchmal mit dem Hund unserer Tochter, Tagesschau oder Theater oder Kino, schlafen, aufwachen, Laufschuhe an. . .

Sie sind Porsche-Fan. Können Sie beschreibe­n, warum der 911 das schönste Auto der Welt ist?

MEY Der 356 war das schönste Auto der Welt, als ich zwölf war, der 912 mit 4- Zylinder-Boxer, als ich 18 war. Das ist lange her! Das schönste Auto der Welt ist für mich heute eins, das mich sicher von A nach B bringt und mit dem ich gemütlich im Stau stehen kann.

Sie wirken stets ausgeglich­en. Wie sind Sie glücklich geworden?

MEY Nun wache ich nicht morgens auf und bin schon mal von Amts wegen glücklich, aber ich bin grundsätzl­ich mit mir im Reinen, das liegt wahrschein­lich zuallerers­t in den Genen, die mir meine Eltern mitgegeben haben. Ich versuche, den Widrigkeit­en des Lebens mit offenem Visier entgegenzu­treten, das Leben zu meistern, Stolperste­ine aus dem Weg zu räumen, auch mit dem festen Vorsatz, mich zu freuen, ja, und auch glücklich zu sein. PHILIPP HOLSTEIN STELLTE DIE FRAGEN.

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FOTO: DPA Reinhard Mey in den 1970er Jahren.

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