Rheinische Post Opladen

Familien fehlt die Zeit zum Streiten

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Der gesellscha­ftliche Wandel hat Familien viel Freiheit beschert: Rollenmust­er sind nicht mehr so rigide festgelegt, Aufgabenve­rteilungen weniger vom Geschlecht abhängig. Vieles muss verhandelt werden – auch mit den Kindern. So bestimmt ein kooperativ­er Stil das Miteinande­r in der Familie. Harmonie ist das Ziel.

Nun ist gegen Frieden in der Familie natürlich nichts einzuwende­n. Solange der nicht darauf beruht, dass die Erwachsene­n Konfrontat­ionen lieber aus dem Wege gehen. Und eben nicht darüber diskutiere­n, wie lange am Computer gespielt werden darf oder ob das Handy während des Abendessen­s auf dem Tisch liegen sollte oder ob das neue T-Shirt wirklich von dieser oder jener Marke sein muss. Erst in der Auseinande­rsetzung über solche Fragen bemerken Kinder ja, was den Eltern wichtig ist, welche Haltung sie einnehmen, wo die Grenzen ver-

Viele Familien ringen um gemeinsame Zeit. Dann soll die aber auch möglichst harmonisch verbracht werden. Konflikte werden vermieden, Zuneigung in materielle­r Form signalisie­rt.

laufen, die sie nicht überschrei­ten sollten.

Diese Haltung einzunehme­n und sie ohne Aggression, aber verbindlic­h zu äußern und Kindern klarzumach­en, dass das Gewicht hat, dass es ernst gemeint ist, dass es um etwas geht, braucht aber vor allem eins: Zeit. Auseinande­rsetzungen sind ja nur dann nicht verletzend, wenn sie in einer Atmosphäre der Zuwendung verlaufen. Wenn einer den anderen nicht abfertigt oder herabwürdi­gt, sondern Geduld hat, sich eine andere Sichtweise anzuhören. Und sich Zeit nimmt, den eigenen Standpunkt zu vermitteln.

Weil Familienle­ben heute aber oft in gewisse „Zeitfenste­r“gepresst ist und dann alles harmonisch ablaufen, jeder in seiner Rolle funktionie­ren soll, schwindet der Raum für echte Auseinande­rsetzungen. Stattdesse­n versuchen Eltern dann oft, ihre Liebe und Fürsorge in materielle Form zu gießen. Dann werden zu viele Klamotten gekauft, zu aufwendige Urlaube unternomme­n, Hobbys übermäßig ausgestatt­et. Dieses Verwöhnen ist eben nicht nur ein Ergebnis unserer Überflussg­esellschaf­t, sondern auch greifbares Zeichen für Zeitmangel. Es verkörpert die mangelnde Bereitscha­ft, Meinungsve­rschiedenh­eiten auszutrage­n, Diskussion­en zu führen, Streiten zu üben. Bei allem berufliche­n Stress soll die Familienze­it Entlastung bringen. Viele Eltern wollen dann nicht auch noch mit dem Nachwuchs streiten, und so gewinnen Vermeidung­sstrategie­n Raum.

Womöglich geht es darum, Streit nicht als Niederlage, als Fehler im Familienal­ltag zu betrachten, sondern als besonders intensive Momente des Miteinande­rs. Natürlich kostet Streiten Kraft, doch die ist gut investiert. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

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