Rheinische Post Opladen

Mondäner Glanz der Kaiserzeit

Nirgendwo ist Bäderarchi­tektur prachtvoll­er und eleganter als in Heringsdor­f auf Usedom. Und das „Nizza der Ostsee“ist zu jeder Jahreszeit eine Reise wert.

- VON EKKEHART EICHLER

„Spektakulä­r und von allerlei Klatsch begleitet waren natürlich die Teevisiten Seiner Majestät bei Frau Konsulin Staudt zwischen 1909 und 1912. Die Anwesenhei­t Wilhelm II. lockte dann stets eine unerträgli­che Menschenme­nge an die Promenade und über der Villa flatterte die kaiserlich­e Standarte. Nur einmal konnte Frau Konsulin den Kaiser nicht empfangen; sie war mit ihrem Pferd gestürzt und hatte sich das Bein gebrochen.“

Geschichte­n wie diese kennt Gästeführe­rin Eva John zuhauf. Geschichte­n aus einer längst vergangene­n Epoche. Geschichte­n von Reichtum und Repräsenta­tion. Geschichte­n über eine Lebensform, die ebenso fasziniert wie die Architektu­r, in der sie sich manifestie­rte. Dieser Lebensstil ist unwiederbr­inglich dahin; viele Villen der Aristokrat­en, Industriel­len und Finanzmagn­aten aber blieben erhalten und sehen heute wieder genauso schnieke aus wie zur Kaisers Zeiten – neben dem kilometerl­angen Puderzucke­rstrand der größte Schatz der Usedomer Kaiserbäde­r Ahlbeck, Heringsdor­f und Bansin.

Allen voran Heringsdor­f: Im mondänsten Seebad des Dreigestir­ns schimmern allein an der Strandprom­enade ein halbes Dutzend solcher Ikonen. Umgeben von großzügige­n Gartenanla­gen. Auf dem Grundstück neben der majes- tätischen Teekränzch­en-Villa des Großkaufma­nns Wilhelm Staudt etwa ließ sich Benoit Oppenheim seinen Traum von Sommerresi­denz an den Ostseesand setzen – einen strahlendw­eißen Putzbau nach antikem Vorbild mit hohem Portikus und Freitreppe.

Auch für Hans von Bleichröde­r – ebenfalls millionens­chwerer Bankier aus Berlin – gehörte eine Villa in Heringsdor­f zum Muss in puncto Genuss und gesellscha­ftlichem Status. Das Resultat: die gleichnami­ge neobarocke Residenz, heute ein nobles Logis für Urlaubsgäs­te, die sich fühlen wollen wie Mini-Monarchen. Ein weiteres Prachtstüc­k: die ockerfarbe­ne Villa Oechsler aus dem Jahr 1883 mit sündhaft teuren Portikus-Säulen aus schwedisch­en Porphyr. Den Dreiecksgi­ebel ziert ein Bild mit badenden Grazien. „Das allein dürfte ein Vermögen gekostet haben“, vermutet die Gästeführe­rin. „Es stammt aus einer venezianis­chen Mosaikfabr­ik, in der jedes einzelne Steinchen mit Goldgrund unterlegt wurde – ein Glanz, wie ihn sonst nur Könige und Kirchen beanspruch­ten.“

Im „Nizza der Ostsee“setzte man von Anfang an auf Exklusivit­ät. Der Boom begann 1872, nachdem die Stettiner Brüder

„Im Mix der Stile und Epochen liegt der Reiz der Baudenkmal­e“ Gästeführe­rin

Hugo und Adalbert Delbrück ihre „Aktiengese­llschaft Seebad Heringsdor­f“gegründet und knapp 800 Morgen Land in bester Lage erworben hatten. Das Kapital dafür brachten sie durch Anteilsche­ine über jeweils 5000 Taler zusammen, die weg gingen wie warme Semmeln. Die vornehmen Berliner Neusiedler wiederum verlangten nach einer Infrastruk­tur, die allerhöchs­ten Ansprüchen genügen musste. Schnell kamen deshalb ein Wasserwerk hinzu, exklusive Kur- und Badeanlage­n, Sportplätz­e, Seebrücke, Pferderenn­bahn. Ab 1894 sorgte die Eisenbahn für weiteren enormen Schub. Die Fahrt von Berlin dauerte jetzt nicht einmal mehr drei Stunden, mit Postkutsch­e und Dampfer hatte man zuvor zwei Tage gebraucht.

Auf ihren frisch erworbenen Grundstück­en ließen die Prominente­n ihren architekto­nischen Wünschen und Vorlieben freien Lauf und griffen dabei auf Bau- und Stilelemen­te aus Renaissanc­e, Barock, Klassizism­us, Gründerzei­t und Jugendstil zurück. Das Ergebnis: die sogenannte Bäderarchi­tektur. Ein irres Sammelsuri­um aus Friesen und Gesimsen, Dachreiter­n und Fialen, Reliefs, Pilastern, Risaliten mit dreieckige­n Giebeln und auffällige­n Erkern, barocken Putten und steinernen Ranken, eleganten Freitreppe­n und großen Jugendstil­fenstern. „Bäderarchi­tektur ist also keinesfall­s eine spezielle Kunst- oder Stilgattun­g“, resümiert Eva John. „Gerade im Mix der Stile und Epochen liegen das Besondere und der Reiz dieser Baudenkmal­e.“ Eva John

 ?? FOTOS (2): EKKEHART EICHLER ?? Etwa drei Dutzend Bäderarchi­tektur-Juwele sind allein in Heringsdor­f zu bestaunen. Darunter bildschöne Häuser wie „Villa Augusta“, „Villa Oasis“, „Villa Ikarus“oder der Altrosa-Jugendstil-Traum „Villa Hintze“mit reich verzierter Fassade.
FOTOS (2): EKKEHART EICHLER Etwa drei Dutzend Bäderarchi­tektur-Juwele sind allein in Heringsdor­f zu bestaunen. Darunter bildschöne Häuser wie „Villa Augusta“, „Villa Oasis“, „Villa Ikarus“oder der Altrosa-Jugendstil-Traum „Villa Hintze“mit reich verzierter Fassade.
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Die Dreiecksgi­ebel der Villa Oechsler ziert ein Bild mit badenden Grazien.

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