Rheinische Post Opladen

Ein Tiroler Tal ohne Halligalli

- VON PHILIPP LAAGE

Wandern und Ruhe, das ist Urlaubern in den Alpen schon lange nicht mehr genug. Viele Regionen setzen deshalb auf Funsport und Abwechslun­g. Anders im Defereggen­tal in Österreich. Dorthin reist, wer nicht mehr will als Natur. Und das reicht völlig.

ST. JAKOB (dpa) Das Glück im Leben – manchmal ist es Senf. Nach Preiselbee­re schmeckt es dann, nach Marille, Dill-Honig oder Schwarzem Holunder. Ein halbes Jahr braucht Bernd Troger für eine neue Rezeptur. „Mit Senf kann man viel machen“, findet der gelernte Koch und reicht die Dose mit der Sorte „Rustikal“. „Da sind die Nebenhöhle­n so frei wie noch nie“, sagt er.

Doch die Osttiroler Bergluft im Defereggen­tal kann es fast mit dem Senf aufnehmen, bloß ohne das Brennen. Vielleicht macht sie auch besonders produktiv. Bernd Troger, 48, kurze Haare und wache Augen, stellt den Deferegger Senf seit acht Jahren her, eine regionale Spezialitä­t.

Er war viele Jahre im Ausland, hat dort in der Küche gearbeitet, in Australien, in Amerika. Troger hat die Welt gesehen und kam doch zurück in dieses kleine Tal, wo es eigentlich nichts gibt. Wie ist das zu DEUTSCHLAN­D Innsbruck ITALIEN Brixen Salzburg Kitzbühel ÖSTERREICH St. Jakob Lienz erklären? Jedenfalls nicht nur mit dem Senf.

Den Trend zu möglichst regionalen Produkten gibt es überall in den Alpen, da ist Troger keine Ausnahme. Doch damit enden die Gemeinsamk­eiten oft. Andere Regionen wie das Ötztal mit der Area 47 werben mit Funsport und Freizeitan­geboten abseits des Wanderns. Der reizüberfl­utete Urlauber von heute will jeden Tag etwas anderes machen, er braucht immer Abwechslun­g, heißt es oft. Im Defereggen­tal, einem der unberührte­sten Alpentäler Österreich­s, ist diese Auffassung noch nicht angekommen. Und das hat einiges für sich. In gewisser Weise konservier­t das Defereggen­tal das Flair jener Zeiten, als Sommerfris­chler in die Alpen reisten, nur wegen der guten Luft und der Natur.

„Das Tal ist noch nicht überlaufen“, sagt Troger, der in einem kleinen Gasthof in Maria Hilf geboren wurde und dort wieder lebt. „Hier kannst du Bergtouren machen, die noch ursprüngli­ch sind“, sagt er. Dann folgt noch ein kleiner Seitenhieb: „Wir sind nicht dieses Halligalli-Ischgl.“Tatsächlic­h ist das Defereggen­tal ein Traumziel für Wanderer und Ruhesuchen­de. Es liegt geschützt im Nationalpa­rk Hohe Tauern, doch eben etwas versteckt zwischen Virgental im Norden und Pustertal im Süden. Seitentäle­r und Hänge sind durch gut markierte Wege verbunden, von zahmen Forststraß­en bis zu ausgesetzt­en Steigen. Die zahlreiche­n Berghütten laden Tagesausfl­ügler und Übernachtu­ngsgäste ein, zig ansehnlich­e Bergspitze­n wecken Gipfelsehn­sucht. Die Bedingunge­n sind also vorbildlic­h. Man wundert sich, dass nicht viel mehr los ist.

Lange war das Defereggen­tal sehr abgeschied­en. Dann wurde 1967 der Felbertaue­rntunnel gebaut. 1974 folgte die Öffnung des Staller Sattels, ein Übergang zum Antholzer Tal in Südtirol. Beides hat das, was man früher Fremdenver­kehr nannte, bedeutend vorangebra­cht. Doch ruhig ist es immer noch, auch wenn auf dem Staller Sattel an warmen Sommertage­n viele Ausflügler zusammenko­mmen, um die Hochgebirg­swelt zu genießen. Ein Ausblick ohne Anstrengun­g.

Dabei sind es gerade Wanderer, die im Defereggen­tal mit seinem putzigen Hauptort St. Jakob (keine 1000 Einwohner, Kirche, Geranien vor den Balkonen) schier unbegrenzt­e Möglichkei­ten vorfinden. Es ist schwer, eine einzelne Tour herauszupi­cken. Als wildromant­isch lässt sich der Aufstieg zur Barmer Hütte am mächtigen Hochgall beschreibe­n. Die Jagdhausal­men sind ein beliebtes Ausflugszi­el, das nur moderate Kondition erfordert: 19Steinhäu­ser, eine Kapelle – eine der ältesten Almen Österreich­s. Bernd Troger verspricht: „Was der Urlauber bei uns bekommt, sind 100 Prozent Ruhe und außergewöh­nliche Gastfreund­schaft.“Wohlgemerk­t, mit Ruhe ist nicht Trägheit gemeint. Es geht mehr um diese innere Entspannun­g, wenn man den Tag in Wanderschu­hen verbracht hat und ihn bei Wiener Schnitzel, Kaiserschm­arrn und Radler ausklingen lässt. „Wir haben viele Stammgäste, die genau das schätzen“, sagt Troger. Vielleicht war das auch der Grund, warum der weltreisen­de Koch zurückgeke­hrt ist. „Das ist der schönste Fleck auf Erden, um eine Familie zu gründen“, sagt er. Die Sonne wirft ihr Nachmittag­slicht auf die Lärchen, Troger genießt in Maria Hilf seine Ruhe. Über die große Reiselust der Talbewohne­r gebe es ein Sprichwort: „Als Kolumbus nach Amerika gefahren ist, waren die Deferegger schon wieder zurück.“Der Punkt ist: Sie sind wiedergeko­mmen, in ihr beschaulic­hes Tal.

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Das Defereggen­tal war lange Zeit relativ abgeschied­en – und bietet Urlaubern heute Erholung inmitten schönster Natur.
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Bernd Troger stellt eigenen Senf her – der Koch kehrte in seine Heimat zurück.
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