Der Mann, der die Oper erfand
Vor 450 Jahren wurde der italienische Komponist Claudio Monteverdi geboren. Er war der erste Revolutionär der Musikgeschichte.
DÜSSELDORF Die Welt war kein wüstes Land, als er sie betrat. Es hatte große Meister gegeben, die für hinreißende Augenblicke der Musik sorgten. Es gab Leonin und Perotin, es gab Josquin Desprez, es gab Adrian Willaert, es gab die sogenannte franko-flämische Vokalpolyphonie, die die Möglichkeiten verschlungener Stimmführungen ausreizte bis zum Letzten. Es gab die wundervolle Kunst des Gregorianischen Chorals mit ihren Gottesanrufungen in endlosen Linien. Und es gab – in den berühmten Florentiner Intermedien – Versuche, Menschen auf eine Bühne zu bringen.
Die Welt war also bestellt und bereitet, trotzdem musste einer kommen, der alle diese Künstler vereinte, überhöhte und zugleich in den Schatten stellte. Dieser große Versöhner und Überwinder war Claudio Monteverdi, den man mit Fug und Recht den William Shakespeare der Musik nennen kann. Mit einem Schlag öffnete er der Musik neue Räume der Klänge, der Farben, der Rhythmen und Erkenntnisse. Mit ihm begann die Moderne der Musik.
Dazu müssen wir 450 Jahre zurückspringen und befinden uns in Cremona, das durch seine Geigenbauer berühmt wurde. Jetzt weilen wir in der Familie eines Wundarztes, der ein Gespür dafür hatte, ob eines seiner Kinder musische Talente zu erkennen gab. Claudio, im Mai 1567 geboren, hatte offenbar ein solches. Er bekam alles, was wir heutzutage eine sorgfältige und breitgefächerte musikalische Ausbildung nennen; er lernte das Singen, er erlernte Instrumente und bekam Unterweisung im Komponieren. Heute würde man solche Knaben scheel angucken und als Wunderkinder hänseln. Wir können froh sein, dass zu Monteverdis Zeiten strenge Verhältnisse herrschten – und dass er einen Lehrer hatte, der ihm nichts durchgehen und doch alle Hilfe zukommen ließ: Es war Marc’Antonio Ingegneri, Organist der Kathedrale von Cremona. Ein sehr guter Mann, vielleicht der Beste für Monteverdi.
1590 ging Monteverdis Traum in Erfüllung: Er hatte sein eigenes Potenzial längst erkannt, er merkte, dass es ihn zur Musik drängte, dass er etwas sagen wollte und zu sagen hatte. Er wurde herzoglicher Hofkomponist in Mantua, später sogar Kapellmeister. Dann wartete er, bis die Zeit reif war, und ging 1613 als nach Venedig: San Marco. Traumstelle, damals wie heute.
Also Komponieren, vielleicht der geheime Fluchtpunkt von Monteverdis Gedanken. Natürlich stand Kirchenmusik im Vordergrund, aber er wollte weg von den Floskeln und Mustern, er wollte, dass die Musik den Text ausdrückte und nicht nur dessen edles oder hohles Gefäß war. Schon vorher hatte er mit einer neuen Kunstform geliebäugelt, dem Madrigal. Hier brachte die Singstimme Emotionen oder, wie man damals besser sagte: Affekte zum Ausdruck. Ob das ein- oder mehrstimmig passierte, war einerlei – das Herz begann sich zu weiten und zu öffnen, wenn Monteverdi komponierte. Seine Madrigale sind klingende Psychogramme über Freude und Trauer, Liebe und Eifersucht, Rausch und Ödnis. An diesen Madrigalen hing Monteverdis Herz; sie sind Mirakel an Feinfühligkeit. Sie sind Echolote in die Seele.
Wer solche Vorarbeit geleistet hatte für die weltliche Seite der Themen, die damals in der Luft und den Menschen auf der Zunge lagen, musste bei der Oper landen. 1607 raffte Monteverdi allen Mut zusammen und komponierte für Mantua eine „Favola in Musica“. Es handelte sich um die erste Oper von abendfüllender Länge – es war „L’Orfeo“, die Geschichte des mythischen Sängers Orpheus, der seiner Eurydike in die Unterwelt folgt und dort allerlei Widrigkeiten erlebt. Diese Story wurde dem Publikum mit allen Mitteln der Kunst serviert, und die Hörer kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, was sich Monteverdi traute: Götter und Menschen auf der Bühne, alle mit tiefen Regungen ausgestattet, mit verzehrender Liebe und listiger Ironie – und mit einer Musik, die so frisch war, reich und zu Herzen gehend. Sie übertraf alles, was das Ohr bislang kannte.
Der „Orfeo“war beides: Abrissbirne für alle anderen Fehlversuche am Modell Oper – und Initialzündung für das moderne Musiktheater. Monteverdi ließ später noch seinen „Ulisse“(Held kehrt heim, sieht fremde Freier, die seine Gemahlin umlagern, und macht mit ihnen kurzen Prozess) und die „Krönung der Poppea“folgen; dies ist ein zynisches Stück, das die Liebe als Gipfel menschlichen Glücks feiert und nebenbei eine wunderbare Skizze über den Typus einer jungen Frau (Poppea) liefert, die einen Mächtigen (Kaiser Nero) anhimmelt und ihn am Ende auch bekommt.
Damit lehnte sich Monteverdi weit aus dem Fenster des Markusdoms, und gleichsam als spirituellen Ausgleich für dieses fast sündige Opus komponierte er seine grandiose „Marienvesper“. Sie steht am Übergang zwischen Renaissance und Barock, eine Komposition des Prunks und des Raffinements. Da zeigt einer, was er kann, und bedenkt auch den sakralen Raum, in dem dieses fast musiktheatralische Werk aufgeführt wird.
Die Pracht geht nicht nur aus der instrumental-vokalen Abwechslung (bis hin zur doppelchörigen Zehnstimmigkeit) hervor, sondern auch aus der Virtuosität, zu der die Sänger aufgerufen sind. Diese Pracht hat jedoch nichts Schillerndes, sie steht in jedem Takt im Dienst einer sinnlich-theologischen Verkündigung, die ausruft: Für Maria nur das Beste! Auf der anderen Seite besticht wieder der weltliche Aspekt – vieles in der „Marienvesper“ist vom Madrigal inspiriert, löst die polyphone Architektur berückend in Richtung der Monodie ab, des einstimmigen Ziergesangs.
Mit Claudio Monteverdi, dessen 450. Geburtstags wir jetzt gedenken, betritt der erste freie Geist die Bühne der Musikgeschichte. Mit ihm und nach ihm war alles anders als zuvor. Und das Beste: Er ist so lebendig wie nie zuvor.
Viele seiner Werke sind Psychogramme, die menschliche Regungen zum Ausdruck brachten