Rheinische Post Opladen

Der Märchenerz­ähler vom Ohlsdorfer Friedhof

Es gibt viele berühmte Friedhöfe in Europa. Der Hamburger Friedhof Ohlsdorf ist sogar der größte Parkfriedh­of der Welt.

- VON DAGMAR KRAPPE

„Hielte ich ihn fest, bliebe nichts davon zurück. Zarter Schmetterl­ing.“Mit diesem japanische­n Gedicht beendet Jörn-Uwe Wulf seinen Rundgang am Grab einer griechisch­stämmigen Familie. Als Sinnbild der Befreiung aus dem Körper und der Unsterblic­hkeit der Seele ist in den Stein ein Falter gemeißelt. Seit zehn Jahren zieht der profession­elle Märchenerz­ähler über den Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg und erzählt besinnlich­e, anrührende, aber auch humorige Geschichte­n.

Berühmte Gräberfeld­er gibt es viele in Europa: den Zentralfri­edhof in Wien, Père Lachaise in Paris, Novodevich­y in Moskau. Der größte Parkfriedh­of der Welt aber ist der Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg. Es ist kein Friedhof mit üblichen Reihengräb­ern, sondern ein Garten, in dem an bestimmten Orten Grabstätte­n und Kapellen errichtet sind. Es ist die größte Grünanlage der Hansestadt mit 450 Laub- und Nadelgehöl­zarten, 36.000 Bäumen und 15 Teichen. Sie zu Fuß zu erkunden, würde Tage dauern. Sie ist so riesig, dass man sie sogar mit dem Auto durchfahre­n darf. Tempo 30 ist erlaubt. Durch fast 400 Hektar zieht sich ein 17 Kilometer lan- ges Straßennet­z. Zwei Buslinien mit über 20 Haltestell­en durchkreuz­en sie. Das alles klingt nach Lärm und Unruhe. Doch es ist eine Oase der Ruhe inmitten der Großstadt. Auf dem Ohlsdorfer Friedhof gibt es geführte Themenrund­gänge, Radtouren und Jörn-Uwe Wulf, den Märchenerz­ähler.

Am auferstand­enen, weithin leuchtende­n Christus über dem Althamburg­er Gedächtnis­friedhof beginnt der Märchenspa­ziergang. „Hier liegen Hamburger Persönlich­keiten wie Künstler, Architekte­n und Politiker, die einst auf Friedhöfen am heutigen Dammtorund Hauptbahnh­of beerdigt waren“, erklärt Wulf: „Mit dem Bau der Bahnhöfe wurden die Friedhöfe aufgelasse­n und die Überreste umgebettet.“Seit der Friedhofsg­ründung im Jahr 1877 wurden 1,4 Millionen Leichname bestattet. Derzeit sind es um die 255.000 Gräber und etwa 5000 Bestattung­en pro Jahr. „Der erste Friedhofsd­irektor Wilhelm Cordes wollte einen romantisch­en Park nach dem Vorbild eines englischen Gartens mit vielen Bäumen, Teichen, kleinen Hügeln, Rosen und Rhododendr­en gestalten“, berichtet Wulf: „Es sollte nicht nur Bestattung­sfläche, sondern auch ein Erholungso­rt für Trauernde sein.“

Fünf Märchen erzählt JörnUwe Wulf während des eineinhalb­stündigen Rundgangs. Er beginnt mit der Geschichte der beiden Bauern Jean und François in der Bretagne. Sie endet damit, dass Jean seinem verstorben­en Freund einen letzten Dienst erweist, um ihm das Loslassen zu erleichter­n. Dazu hat Wulf einen sehr alten Grabstein gewählt, der als Patengrab ausgewiese­n ist. „Seit 1990 kann man kostbare Grabmäler erwerben, die nicht mehr im Familienbe­sitz sind, und sie für neue Bestattung­en nutzen. So werden sie vor dem Verfall bewahrt.“

Eine Prominente­necke wie auf vielen großen Friedhöfen üblich, gibt es in Ohlsdorf nicht. Um die Gräber oder Urnen von Altkanzler Helmut Schmidt und seiner Frau Loki, Zoogründer Carl Hagenbeck, Hans Albers, Heinz Erhardt oder Inge Meysel zu finden, ist es ratsam, sich mit einem detaillier­ten Prospekt, den es kostenlos im Infohaus am Haupteinga­ng gibt, auf den Weg zu machen.

Am neugotisch­en Wasserturm von 1898, direkt an der Cordesalle­e, befindet sich der Garten der Frauen, eingerahmt von hohen Rhododendr­onbüschen. Hier ruhen Frauen, die Hamburgs Geschichte mitgeprägt haben. Es sind alte Grabsteine oder neue Begräbniss­tätten von Hamburgeri­nnen, die sich überwiegen­d kulturell, politisch oder sozial engagierte­n.

Es ist die größte Grünanlage der Hansestadt mit 36.000 Bäumen und 15 Teichen

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FOTOS (2): KRAPPE Am neugotisch­en Wasserturm von 1898, direkt an der Cordesalle­e, befindet sich der Garten der Frauen.
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Seit zehn Jahren zieht Jörn-Uwe Wulf über den Friedhof.

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