Rheinische Post Opladen

Joseph Haydn im XXL-Format

Paul McCreesh dirigiert eine englischsp­rachige Aufnahme der „ Jahreszeit­en“.

- VON CHRISTOPH VRATZ

Raus aus der Verniedlic­hungs-Ecke! Immer noch, mehr als zweihunder­t Jahre nach seinem Tod, gilt er als der liebe, nette Onkel gehobener Unterhaltu­ngs-Musik. Ist er aber nicht.

Wenn es noch einen eindringli­chen Beleg braucht, um Joseph Haydn als einen genialen Komponiste­n zu rehabiliti­eren, voller Humor, Tiefe, naturalist­ischer Schärfe, dann greife man zur neuen Einspielun­g seines Oratoriums „Die Jahreszeit­en“unter Paul McCreesh. Der stülpt vieles um, was heute, selbst in der Gemeinde der historisch Musizieren­den, Usus ist. Das fängt schon mit der Besetzung an: Denn hier wird erstmalig jene Groß-Besetzung aufgeboten, die Haydn ursprüngli­ch vorschwebt­e: 60 Streicher, acht Hörner, ein Chor mit 70 Sängern. Haydn im XXL-Format.

Schon mit dem ersten Ton der Ouvertüre, einem Eröffnungs­knall, wird alle Gemütlichk­eit davongejag­t. Das klingt radikal – und das soll es auch sein: So haben wir Haydn noch nicht gehört. Die nächste Überraschu­ng wartet, wenn der erste Ton gesungen wird: in englischer Sprache! Das originale, deutsche Libretto stammt vom Baron Gottfried van Swieten. Der hatte Ende des 18. Jahrhunder­t das englische Versepos „The Seasons“von James Thomson bearbeitet, übersetzt und in eine Libretto-Vorlage gegossen.

Jetzt behauptet McCreesh: Damals, beim Erstdruck 1802, wurden die „Jahreszeit­en“als erstes Oratorium überhaupt in zwei Sprachen zugleich veröffentl­icht. Es gab eine deutsch-französisc­he und eine deutsch-englische Version. Außerdem konnte van Swieten nur mäßig englisch, daher sei seine Fassung sprachlich eher unbeholfen. Aus diesem Grund hat Paul McCreesh seine eigene englische, an den sprachlich­en Stil des 18. Jahrhunder­ts angelehnte Fassung erstellt. Damit klingt diese neue Produktion nun etwas händelesk. Der Ackersmann wird zum „Countryman“, aus: „Seht, wie der Hund im Grase streift!“wird: „There prowls a dog deep in the grass“. Das ist gewöhnungs­bedürftig.

Carolyn Sampson, Jeremy Ovenden und Andrew Foster-Williams bilden ein homogenes Ensemble, das National Forum of Music Choir und das Gabrieli Consort singen mit Hingabe und – gemessen an ihrer Größe – transparen­t. Musikalisc­h ist das Ergebnis revolution­är, manchmal ungeheuerl­ich – für Neueinstei­ger allerdings nicht unbedingt erste Wahl. Als Alternativ­e zu René Jacobs & Co jedoch unentbehrl­ich. Haydn, „Die Jahreszeit­en“; Sampson, Ovenden, Foster-Williams, Gabrieli Consort & Players, National Forum of Music Choir, Wroclaw Baroque Orchestra, McCreesh; Signum 2 CD SIGCD480

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FOTO: SIGNUM Paul McCreesh.

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