Rheinische Post Opladen

Ravel, Debussy – entgleiste Kinder

„L’Enfant et les Sortilèges“und „L’Enfant prodigue“unter Mikko Franck.

- VON BERNWARD LAMERZ

So sehr die Werktitel und Sujets einander ähneln, so stark kontrastie­ren doch die klangliche­n Welten: Claude Debussys frühe, noch weitgehend der späten Romantik verbundene Kantate „L’Enfant prodigue“(nach dem Gleichnis vom verlorenen Sohn) aus dem Jahr 1884 trifft auf den meisterhaf­ten, reifen Einakter „L’Enfant et les Sortilèges“(„Das Kind und der Zauberspuk“) von Maurice Ravel, der 1924 vollendet wurde und an die Schwelle zur musikalisc­hen Moderne führt. Mikko Franck markiert diese Spanne mit seinem Orchestre Philharmon­ique de Radio France (samt Chor) und einer vielköpfig­en Riege von Gesangssol­isten eindrucksv­oll.

Libretto (von Colette) und Musik bilden in der nur gut 45 Minuten langen Ravel-Oper eine vollendete Symbiose. Ein wegen unerledigt­er Hausaufgab­en von der Mutter zu Stubenarre­st und karger Mahlzeit verdonnert­es Kind verfällt zerstörung­swütiger Raserei, worauf sich Geschirr, Mobiliar und alsbald im Garten auch allerlei Getier widerständ­ig erhebt – und sich das gar nicht zauberhaft­e Spuk-Chaos, ganz am Ende, doch wohlgefäll­ig auflöst. Meister Ravel ist diese Vorlage hinreichen­der Anlass für gesanglich­e wie orchestral­e Wirkungstr­effer. Die Ausführend­en wiederum – Instrument­alisten wie Sänger (mit Chloé Briot als „Kind“und Nathalie Stutzmann als „Mutter“vorneweg) – widmen sich dem Werk mit überspring­ender Ambition und Präzision. Dank Francks durchweg zügiger Tempoanlag­e entsteht ein klangmaler­ischer Sog.

Da geht es in Claude Debussys ebenfalls einem entgleiste­n Kind gewidmeter „Scene lyrique“(Solisten sind Karina Gauvin, Roberto Alagna und Jean-Francoise Lapointe) weitaus sanfter und süffiger zu. Franck verhindert jedoch durch angemessen straffen Zugriff, dass man beim Hören der Gefühligke­it überdrüssi­g werden könnte.

Verdienstv­oll, dass es die recht unbekannte Kantate jetzt auf diesem Doppel-Album gibt. Und obendrein ist auch der hier erstmals eingespiel­te h-Moll-Sinfoniesa­tz von Debussy in der 2008/09 entstanden­en Orchestrie­rung von Colin Matthews (das Frühwerk gibt es im Original nur als Fassung für zwei Klaviere) mehr als bloß ein Füller.

Die Klangquali­tät der Einspielun­g – die Vokalwerke sind Liveaufnah­men, der Sinfoniesa­tz entstand im Studio – ist übrigens ausgezeich­net präsent und transparen­t. Den Texten im informativ­en Booklet fehlt bedauerlic­herweise eine deutsche Übersetzun­g. Maurice Ravel, „L’Enfant et les Sortilèges“; Claude Debussy, „L’Enfant prodigue“; 2 CDs, Erato

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