Rheinische Post Opladen

Fluchtrout­e Mittelmeer

Italiens Küstenwach­e ist überforder­t: Die überfüllte­n Flüchtling­sboote aus Afrika haben keine Chance, Europa zu erreichen.

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

ROM Es ist ein grauer Bürotisch, von dem aus über Leben und Tod im Mittelmeer entschiede­n wird. An diesem Morgen blicken zwei Offiziere in blauer Uniform auf ihre Computerbi­ldschirme. Zu ihrer Rechten und Linken sind fünf rote Telefonhör­er montiert, die abgenommen werden, sobald ein Notruf eingeht. Und die Telefone klingeln Sturm in diesen Tagen.

Täglich berichtet die italienisc­he Küstenwach­e über ihre Rettungsop­erationen im Mittelmeer. In knappen Mitteilung­en werden die Zahlen bekannt gegeben. „730 Menschen gerettet“, „800 Menschen gerettet“, vor einigen Tagen waren es sogar 2000 innerhalb von nur 24 Stunden. Die brisantest­en Zahlen sickerten am Wochenende allerdings aus deutschen Sicherheit­skreisen durch. Demzufolge hat sich die Zahl der Flüchtling­e, die auf Booten über das Mittelmeer nach Europa kommen, drastisch erhöht. So habe Italien seit Jahresbegi­nn insgesamt 71.978 Neuankömml­inge über die zentrale Mittelmeer­route registrier­t, das sei im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum ein Zuwachs von 27,6 Prozent, schrieb die „Bild am Sonntag“.

Die Zahlen des UN-Flüchtling­shilfswerk­s UNHCR zeichnen dagegen ein anderes Bild. Danach erreichten seit Anfang 2017 exakt 71.983 Menschen Italien über das Meer, im selben Zeitraum 2016 waren es dem UNHCR zufolge mit 70.222 beinahe genauso viele. Der Anstieg der Zahl der Ankömmling­e wäre danach weniger dramatisch. Dennoch rechnen Experten damit, der Migrations­rekord aus dem vergangene­n Jahr könnte 2017 übertroffe­n werden. Damals kamen ins- gesamt 181.000 Menschen über das Meer nach Italien.

Die Kommandoze­ntrale der italienisc­hen Küstenwach­e ist in einem Großraumbü­ro im Südosten Roms untergebra­cht. In zwei Sälen überwachen die Offiziere den Schiffsver­kehr im Mittelmeer und sind rund um die Uhr in Alarmberei­tschaft. 170 Seemeilen, rund 300 Kilometer, sind es von der libyschen Küste bei Tripolis, von wo die meisten Flüchtling­sboote ablegen, bis auf die italienisc­he Insel Lampedusa. „Wenn wir einen Notruf aus der Zone bekommen, sind wir automatisc­h zuständig“, sagt Admiral Vincenzo Melone, der Chef der italienisc­hen Küstenwach­e.

Das Seerecht lässt keinen Spielraum: Menschen in Seenot müssen gerettet werden, auch wenn das 630.000 Quadratkil­ometer große Seegebiet vor Libyen, fast doppelt so groß wie die Bundesrepu­blik, offiziell nicht in die Zuständigk­eit der Italiener fällt. Aber wer über eine Notlage informiert wird, darf diese nicht ignorieren. Libyen und Tunesien haben allerdings keine Rettungszo­nen eingericht­et. „Ein schwarzes Loch“nennt Melone deshalb das Meer vor der libyschen Küste. Nach Angaben des UNHCR sind hier in diesem Jahr bereits über 2000 Menschen bei dem Versuch ertrunken, Europa zu erreichen.

Um das zu vermeiden, sitzen Melones Leute in Rom vor ihren Monitoren. Sobald eines der roten Telefone klingelt, setzt sich eine Hilfsmasch­inerie in Bewegung. Sämtliche Schiffe in der Umgebung werden über die Notlage informiert. Wenn sie, wie oft, nicht selbst direkt eingreifen kann, bestimmt die Küstenwach­e, wer in der Nähe Hilfe leisten muss. „Ohne die Hilfe von Frachtschi­ffen, den Schiffen der Nichtre- gierungsor­ganisation­en und den Militärsch­iffen würden wir das nie schaffen“, sagt Melone und nimmt damit die Organisati­onen gegen den immer wieder erhobenen Vorwurf in Schutz, sie spielten den Schleppern in die Hände, weil sie mit ihren Rettungsbo­oten vor der libyschen Küste kreuzen.

Im vergangene­n August mussten die Offiziere in Rom an einem einzigen Tag 53 Rettungsop­erationen koordinier­en, aus mehr als 1000 Kilometer Entfernung. 7000 Menschen wurden an diesem Tag gerettet. Auf einer Seekarte, auf der sämtliche Operatione­n von damals eingezeich­net wurden, sind Dutzende rote Kreuzchen zu sehen. „Stellen Sie sich vor, jedes dieser Kreuzchen fleht um sein Leben“, sagt ein Offizier. Die Hochsaison der Überfahrte­n steht bevor. Bei gutem Wetter und ruhiger See schicken die Schlepper wie jedes Jahr besonders viele Boote aufs Meer hinaus. Admiral Melone und seine Mitarbeite­r im Seenotrett­ungszentru­m sind auf einen aufreibend­en Sommer gefasst.

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FOTO: IMAGO Einer hat das Ziel auf der Brust geschriebe­n: Afrikaner kommen im Hafen von Palermo auf Sizilien an.

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