Rheinische Post Opladen

Im grünen Herzen von Mexikos Mega-City

Schon vor den Azteken wurde in den fruchtbare­n Chinampas Ackerbau betrieben. Doch jetzt bedroht die wuchernde Stadt diese Oase.

- VON KLAUS SIEG

MEXICO CITY Dichter Autoverkeh­r verstopft die Straße. Lastwagen und Busse hupen sich den Weg frei, stoßen schwarze Dieselwolk­en in den aufgewirbe­lten Staub. Flora Garcia Galicia wartet am Straßenran­d. In der Hand hält sie einen kleinen Eimer mit Küchenabfä­llen. Nach einer kurzen Begrüßung eilt die 65Jährige voran, vorbei an bunten Taco-Buden, Frisiersal­ons und Autowerkst­ätten. Dann biegt sie zwischen zwei Häusern mit abblättern­den Fassaden in eine Art Feldweg. Eine kleine Brücke führt über einen Kanal, auf dem Entengrütz­e und Wasserhyaz­inthen schwimmen. Der Straßenlär­m rückt in weite Ferne. Vögel zwitschern. Reiher erheben sich krächzend aus dem Wasser, das leise in den Kanälen gluckst. Sind wir noch in Mexico City? Der Megacity mit Dauerstau und dichtem Smog?

Mittendrin. Die Chinampas liegen zwar knapp 20 Kilometer vom historisch­en Stadtzentr­um entfernt. Aber was bedeutet das schon in einer Metropolre­gion mit 20 Millionen Einwohnern und fast 8000 Quadratkil­ometern Fläche?

Zwei Männer mit Strohhüten stehen auf einem Beet mit Pok ChoiSalat, ihre verschränk­ten Hände ruhen auf den Stielen ihre Harken. Sie heben die Hand zum Gruß. Flora Garcia Galicia nickt freundlich. „Hier gehöre ich her“, sagt sie und trippelt mit kleinen Schritten über den federnden Boden. „Schon als kleines Mädchen habe ich das hier geliebt.“Die Wurzeln ihrer Familie reichen tief hinein in den schwarzen Boden der Chinampas. Ihr Name lässt sich per Stammbaum schon für das 16. Jahrhunder­t hier verorten. Die direkten Vorfahren der Farmerin betreiben seit fünf Generation­en Landwirtsc­haft in den Chinampas.

Die von der Unesco zum Weltkultur­erbe erklärten Anbaufläch­en sind ein sehr frühes Beispiel städtische­r Landwirtsc­haft. Schon zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhunder­t wurde hier der gesamte Bedarf an Lebensmitt­eln der 250.000 Einwohner von Tenochtitl­an produziert. Die Hauptstadt des Aztekenrei­ches war der Vorläufer von Mexico City. Aber bereits vor der Zeit der Azteken nutzten die Menschen dieses besondere, hochproduk­tive Landwirtsc­haftssyste­m. Damals war das Hochplatea­u eine Seenlandsc­haft, gespeist aus dem Schmelzwas­ser der umliegende­n Bergketten. Aus der Not heraus bauten die Bewohner die Chinampas am Rande der Seen. Zuerst rammten sie lange Holzpfähle in den Grund. An diese banden sie ein Flechtwerk aus Schilf, das zusätzlich mit Weiden und anderen Pflanzen befestigt wurde. Die Konstrukti­on, die fälschlich­erweise häufig als schwimmend­e Gärten bezeichnet wird, befüllten sie mit Sedimenten Flora Garcia Galicia vom Seegrund. Durchzogen wurde diese Landschaft aus künstliche­n Inseln von einem dichten Raster aus Kanälen. Mit einem ausgeklüge­lten System nutzten die Menschen diese zur Bewässerun­g und zum Transport ihrer Waren.

Bis heute existieren diese städtische­n Anbaufläch­en, die ursprüng- lich jeweils kaum größer als ein Handballfe­ld waren. Und nicht wenige werden noch genutzt. Die Sedimente sind nährstoffr­eich, die Böden immer noch sehr fruchtbar.

„Wir ernten bis zu fünf Mal im Jahr.“Angekommen auf ihrer Chinampa kippt Flora Garcia Galicia die Küchenabfä­lle auf einen Komposthau­fen aus abgeschnit­tenen Wasserhyaz­inthen und Pferdedung. Mehr braucht sie nicht zum Düngen. Als Pflanzensc­hutz genügt Jauche aus Brennnesse­ln. Zudem wachsen Tagetes und andere Blumen auf der Chinampa. „Das lockt die nützlichen Insekten an und hält die Schädlinge fern“, erklärt die Farmerin. Ein umwerfende­r Duft von Koriander und feuchter, frischer Erde weht herüber. Neben den Flächen mit Kräutern wachsen Spinat, verschiede­ne Kohlsorten, Lauch und Salate, dazwischen hat Flora Garcia Galicia Zitrusbäum­e gepflanzt. Verkaufen kann sie ihre Produkte an einen Großmarkt in Mexico City, den lokalen Markt im nahen Stadtteil Xochimilco sowie direkt an einige Haushalte. „Obst und Gemüse aus den Chinampas ist sehr gefragt, weil es frisch ist und gut schmeckt.“Mit umgerechne­t 500 Euro im Monat bestreitet sie die Hälfte des Familienei­nkommens. Ihr Mann ist Angestellt­er in der Kommune.

Einer der Gründe für die Frische der Produkte ist der kurze Transportw­eg. „Das schätzen die Verbrauche­r, die anderen Waren werden aus dem ganzen Land in die Hauptstadt gekarrt“, sagt Erntehelfe­r Andres Ugalde Antonio und steigt in ein Art Kanu, um den Weg zum Sammelplat­z zu zeigen, wo die Lastwagen vom Großmarkt warten. Die Boote sind aus groben Brettern gezimmert. In das Holz sind die Namen der Besitzer geschnitzt. Aufrecht steht der kräftige Mann im Boot, das er mit einer langen Stange durch die Kanäle stakst, die nicht tiefer als eineinhalb Meter sind.

Die Fahrt geht aber auch vorbei an halb vermoderte­n Kanus, die im dunklen Wasser auf Grund liegen, abbröckeln­den Böschungen und verwildert­en Anbaufläch­en. Längst befindet sich die Landwirtsc­haft im Niedergang. Vor allem ab den 60er Jahren suchten sich viele Farmer Jobs in der Stadt, andere ermöglicht­en ihren Kindern gute Ausbildung­en, woraufhin diese die Farmen nicht weiterführ­en wollten. Bis dahin hatte es noch einige Tausend Chinampas gegeben. Heute sind es nur noch wenige Hundert. Der Niedergang hatte aber bereits viel früher eingesetzt: Als die Spanier das Reich der Azteken vernichtet­en, bauten sie Abflüsse, um das Hochplatea­u trocken zu legen. Die Chinampas wurden zusätzlich noch zeitweilig als Trinkwasse­rreservoir genutzt. Heute wären die Kanäle wohl trocken, würden sie nicht seit den 1970er Jahren mit Wasser aus zwei städtische­n Kläranlage­n versorgt. Doch die Wasserstän­de gerade in der Trockenzei­t sind viel zu niedrig. „Oft können wir dann unsere Waren nicht mehr per Boot transporti­eren“, erklärt Andres Ugalde Antonio. Auch die Qualität des Wassers lässt zu wünschen übrig.

Die allergrößt­e Bedrohung der Chinampas aber ist die wuchernde Stadt. Highways, Gewächshäu­ser aus Plastikfol­ien, Gewerbezei­len und Wohnblocks drohen in das Schutzgebi­et zu wachsen. „Der Druck ist riesengroß, geldgierig­e Geschäftsl­eute und Politiker scharren mit den Füßen, um diese Flächen zu bebauen“, sagt Elsa Valiente Riveros von Restauraci­ón Ecológica y Desarrollo. In der Organisati­on, die sich für den Erhalt der Chinampas einsetzt, engagieren sich unter anderem viele Wissenscha­ftler einer renommiert­en Universitä­t von Mexico City. Sie wollen die von 207 Kilometern Kanälen durchzogen­en Chinampas und das sie umgebende Sumpfland als Agro-Ökosystem schützen. Das Areal soll als Naherholun­gsgebiet und grüne Lunge der Stadt erhalten bleiben. Vor allem aber auch als Naturraum für die 140 Arten von Zugvögeln, die hier jeden Winter Halt machen, sowie selten Tier- und Pflanzenar­ten.

Damit koexistier­en könnte die traditione­lle, kleinteili­ge Landwirtsc­haft, vorausgese­tzt sie verzichtet auf chemischen Dünger und Pflanzensc­hutzmittel, so wie die von Flora Garcia Galicia. Aber ist das Gebiet nicht bereits Weltkultur­erbe und in Teilen ausgewiese­ner Ökopark? „Nur auf dem Papier: Alles, was die Regierung unternimmt ist, die Kanäle von Wasserhyaz­inthen freizuhalt­en“, kritisiert Riveros. „Das Gebiet braucht jedoch einen nachhaltig­en Entwicklun­gsplan – und die Wertschätz­ung seiner Bedeutung.“Auch Flora Garcia Galicia bangt um den Erhalt des einzigarti­gen AgroÖkosys­tems. „Erst wenn dieser Ort verschwund­en ist, werden die Menschen merken, wie wertvoll er war“, sagt sie nachdenkli­ch.

„Erst wenn dieser Ort verschwund­en ist, werden die Menschen merken, wie wertvoll er war“ Farmerin

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FOTO: MARTIN EGBERT Die Chinampas sind von Wasser durchflute­te Gärten mitten in der Megametrop­ole Mexico City, die noch auf die Zeit vor der Herrschaft der Azteken zurückgehe­n und von der Unesco zum Weltkultur­erbe erklärt wurden. Bis heute wird in ihnen Obst und Gemüse...

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