Rheinische Post Opladen

Verhärtete Fronten im Schanzenvi­ertel

Tausende Hamburger räumen ihre Stadt auf. Nach den Krawallen ringt vor allem das linke Stadtviert­el um sein Selbstvers­tändnis.

- VON MILENA REIMANN

HAMBURG Dieses Mal sind die Hamburger gerüstet. Hunderte Menschen an der Haltestell­e Sternschan­ze haben Handschuhe an, Müllsäcke und Kehrbleche dabei. Ein nahegelege­ner Baumarkt hat Besen und Eimer bereitgest­ellt, der Supermarkt aus dem Nachbarvie­rtel verteilt Wasserflas­chen. „Geht einfach los und helft, wo ihr könnt“, ruft eine junge Frau von einer Treppe. Viel mehr sagen muss sie nicht. „Hamburg räumt auf“lautet das Motto, unter dem sich Tausende in den sozialen Netzwerken gestern verabredet haben.

„Hamburg meint’s ernst“, sagt eine Kellnerin vor einem Imbiss in einer Seitenstra­ße lachend, als die Putztrupps an ihr vorbeizieh­en, hinein ins Herz des Viertels. Vor allem hier auf dem Schulterbl­att, der Straße, an der das linke Zentrum „Rote Flora“steht, haben Aktivisten gewütet, Scheiben eingeworfe­n, Läden geplündert, Barrikaden angezündet. Die Stadtreini­gung hat bis zum Mittag schon ganze Arbeit geleistet und teils mit Baggern den groben Schutt weggeräumt.

Nur auf dem Kopfsteinp­flaster sieht man in den Fugen die schwarzen Reste der abgebrannt­en Barrikaden; auf den Gehwegen liegen noch ein paar Scherben, Wände und Fenster sind beschmiert. In Grüppchen suchen sich die vielen Helfer gut gelaunt eine Ecke, die sie saubermach­en können. Doch ums Putzen geht es hier nur oberflächl­ich.

„Was wir hier machen, ist Traumabewä­ltigung“, sagt Tobias mit verschränk­ten Armen. Nicht weit von der Roten Flora und dem Schulterbl­att wohnt der 42-Jährige in einer Seitenstra­ße und hat die Krawalle hautnah miterlebt. Vor dem Haus, in dem er wohnt, haben Barrikaden gebrannt, wurden Steine geschmisse­n. Keine zwei Stunden hat er in der Nacht von Freitag auf Samstag geschlafen. „Das war das Schlimmste, was wir im Viertel bisher erlebt haben“, sagt er über die linksgeprä­gte Schanze, die Demonstrat­ionen gewohnt ist, die nicht gerade zimperlich sind. Samstagfrü­h um sechs ist Tobias schlaflos durch die Straßen des Viertels gewandelt – fassungslo­s. „Wie ein Kriegsgebi­et“hätten die Straßen ausgesehen, und selbst den Drogeriema­rkt „Budni“hatten sie geplündert. „Ein lokales Familienun­ternehmen, das regelmäßig viele Ausbildung­splätze schafft“, sagt Tobias kopfschütt­elnd.

Er ist nicht der Einzige, der das alles noch nicht richtig fassen kann. Vor dem autonomen Zentrum „Rote Flora“bilden sich Menschentr­auben. Zu mehreren reden die Bewohner der Schanze auf die wenigen Autonomen ein, die sich an diesem Tag vor dem alten, besetzen Theatergeb­äude zeigen. „Was hier passiert ist, ist ein Schlag ins Gesicht für jeden, der sich links engagiert“, sagt ein Mann zu einer Autonomen. „Warum deckt ihr weiter diese Idioten?“, fragt er.

Dass die „Rote Flora“sich bereits teilweise von den Gewaltexze­ssen der vergangene­n Nächte distanzier­t hat, reicht den Anwohnern nicht. „Ich habe nichts gegen die Rote Flora“, sagt ein Mann, der seit 20 Jahren im Viertel wohnt, „aber ich habe was gegen vier Meter hohe Brände auf der Straße!“Die brennenden Barrikaden, sagt ein Autonomer, hätten Menschenle­ben gefährdet, davon wolle er sich distanzier­en. „Das alles überzeugt mich nicht“, sagt ein anderer Mann. „Das werde ich dann wohl auch nicht ändern können“, sagt der Autonome. Die Fronten in dem Viertel, das sein Selbstvers­tändnis auch aus der „Roten Flora“zieht, sind verhärtet.

Daran wollen die Hunderten Helfer, die aus ganz Hamburg ins Schanzenvi­ertel gekommen sind, nicht denken. Während vor der „Roten Flora“hitzig diskutiert wird, sorgen sie auf den Straßen für eine große Putz-Party. Schmierere­ien werden von den Wänden geschrubbt, eine Flüchtling­sinitiativ­e verteilt Tee und frische Waffeln an die Helfer, die mit viel Elan und allerlei Werkzeug den Ruß aus den Fugen des Kopfsteinp­flasters kratzen. Über große Boxen beschallt ein Anwohner die Straße mit Louis Armstrongs „What a Wonderful World“. Als das Lied zu Ende ist, bejubelt die ganze Straße sich selbst.

Lina (28) und Lisa (29) pusten Seifenblas­en über die Szenerie. „Ich finde es schön, dass jetzt neue Bilder entstehen von Hamburg“, sagt Tobias (42) Das beliebte Hamburger Schanzenvi­ertel nach den Krawallen: Ein Mädchen steht vor dem zerstörten Schaufenst­er eines Geschäfts am Schulterbl­att. Mülltonnen wurden in Brand gesteckt, Einkaufswa­gen als Barrikaden benutzt. Jutta Frank (70) vor den zersplitte­rten Scheiben ihres Geschäfts. Auch Supermärkt­e in der Schanze wie dieser „Rewe“wurden geplündert. Die Stadtreini­gung kehrt die Spuren der Verwüstung teils mit schwerem Gerät zusammen. Lisa. „Die Schanze steht auch für Zusammenha­lt und Harmonie.“Darum geht es vielen hier: ein anderes Bild von Hamburg in die Welt zu tragen. Ein paar Meter weiter fischen Alex (35) und Linn (29) Scherben aus den Brennnesse­ln eines Grünstreif­ens am Straßenran­d. „Man musste die letzten Tage das Ganze ohnmächtig beobachten. Es tut gut, jetzt etwas zu tun“, sagen sie. Auch sie wollen zeigen: Wir sind Hamburg, wir lassen uns nicht unterkrieg­en.

„Die Schanze war schon immer schaurig-schön“, sagt Jutta Franck. Die 70-jährige Hamburgeri­n steht vor ihrem Tee- und Delikatess­enladen im Schanzenvi­ertel. Das Schaufenst­er hat große Sprünge, ein Teeservice mit Kätzchen dahinter ist heil geblieben. „Seit 1954“steht auf

„Was wir hier machen, ist Traumabewä­ltigung“ Anwohner im Schanzenvi­ertel „Die Schanze steht auch für Zusammenha­lt und Harmonie“

Lina (28) und Lisa (29)

Helferinne­n bei der Aktion „Hamburg räumt auf“

dem Schild über dem Eingang. Noch nie zuvor hat es ihren Laden bei Aufständen im Viertel getroffen – und sie ist sich sicher: „Das sieht nicht nach Absicht aus, da sind sicher einige Schüsse von Zwillen fehlgeleit­et worden.“Ein bisschen Papierkram, um an die Entschädig­ung zu kommen, die Bundeskanz­lerin Angela Merkel noch bei der Abschluss-Pressekonf­erenz des Gipfels versproche­n hat, und dann kehrt bei ihr wieder Ruhe ein, sagt Jutta Franck. Hanseatisc­he Gelassenhe­it nennt man das.

Inzwischen spielt gegenüber von ihrem Laden spontan eine Band ein Konzert an der Straßeneck­e. Das Schanzenvi­ertel tanzt wieder. Die Sonne kommt heraus. Familien stehen Schlange, um ein Eis zu bekommen. In den Cafés trinken die Menschen frischen Pfeffermin­ztee und essen portugiesi­sche Puddingküc­hlein. Doch vor der „Roten Flora“diskutiere­n sie noch immer. „Das hier ist ab jetzt ein Zentrum der Schande für Hamburg“, sagt ein Mann mit halbvollem Müllsack in der Hand und zeigt auf die „Rote Flora“.

Die Straßen der Schanze mögen wieder aufgeräumt sein, vielleicht wie nie zuvor, doch das Selbstvers­tändnis des Viertels ist es noch lange nicht.

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FOTOS: AFP, DPA, IMAGO (2), M. REIMANN | GRAFIK: C. SCHNETTLER
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