Rheinische Post Opladen

Der Strippenzi­eher?

- VON PHILIPP JACOBS

Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan beschuldig­t seinen einstigen Weggefährt­en Fethullah Gülen, den Putschvers­uch initiiert zu haben.

Der Staatspräs­ident der Türkei wäre gerne Profifußba­ller geworden. Als Jugendlich­er galt Recep Tayyip Erdogan sogar als talentiert. Er hatte Ambitionen, die sein Vater jedoch nicht teilte: Er verwehrte Erdogan eine Karriere als Sportler und schickte ihn stattdesse­n auf ein religiös orientiert­es Gymnasium. Seitdem besitzt Erdogan einen tiefen Glauben. 1981 machte er an der Fakultät für Wirtschaft­s- und Verwaltung­swissensch­aften der Marmara-Universitä­t in Istanbul seinen Abschluss.

Im selben Jahr entschied ein Imam aus der Provinz Erzurum im Osten der Türkei, seine Predigertä­tigkeit aufzugeben und sich ganz dem Aufbau seiner zuvor gegründete­n Bewegung zu widmen. Der Imam heißt Fethullah Gülen, und seine Bewegung ist die „Hizmet“(„Dienst“).

Gülen errichtete Schulen und Bildungsei­nrichtunge­n. Die Jugend von heute ist die politische Führung von morgen, dachte Gülen. Denn mit der bisherigen säkularen Führung war er überhaupt nicht einverstan­den. Den Militärput­sch im März 1971 begründete die Armee mit ihrer Sorge vor „reaktionär­en religiösen Umtrieben“. Gülen, der seit 1967 als Imam religiöse Sommerlage­r für Jugendlich­e organisier­t hatte, wurde festgenomm­en. Spätestens zu jener Zeit merkte Gülen, dass er den Staat nicht frontal angreifen konnte. Er musste ihn unterwande­rn.

Mitte der 80er Jahre wurden Gülen und seine Bewegung immer berühmter. Anhänger gelangten in wichtige Positionen, vor allem bei der Polizei und in der Justiz.

Als 1996 die islamistis­che Wohlfahrts­partei Necmettin Erbakans an die Macht gelangte, distanzier­te sich Gülen von ihr. Erdogan dagegen war mittlerwei­le im Vorstand der Partei und Erbakan sein politische­r Ziehvater. 1994 erklomm Erdogan das Amt des Bürgermeis­ters von Istanbul.

Vier Jahre später verbot das türkische Verfassung­sgericht die Wohlfahrts­partei. Ihr wurden Sympathien zum Dschihad und zur Einführung der Scharia vorgeworfe­n, was dem staatliche­n Grundsatz des Laizismus widersprac­h, mit dem Erdogan nichts anfangen konnte. Er rebelliert­e und wurde wegen Aufstachel­ung der Bevölkerun­g zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Vier Monate musste er absitzen. In dieser Zeit trennte er sich ideologisc­h von Erbakan und gründete 2001 die Partei für Gerechtigk­eit und Aufschwung (AKP).

Gülen gefiel die demokratis­chkonserva­tive Ausrichtun­g, die die AKP propagiert­e. Er begann, Erdogan zu unterstütz­en. Gülen lebte mittlerwei­le im selbstgewä­hlten Exil in den USA, weil kurz zuvor ein heikler Videomitsc­hnitt einer Ansprache von ihm öffentlich wurde. Darin sagt Gülen an seine Anhänger gerichtet: „Ihr müsst in die Arterien des Systems eindringen, ohne dabei bemerkt zu werden. Ihr müsst warten, bis der richtige Moment gekommen ist, bis ihr die gesamte Staatsmach­t an euch gerissen habt.“Gülen bestreitet die Echtheit des Videos.

Erdogans AKP gewann 2002 dank Gülens Hilfe erstmals eine Parlaments­wahl. Es sollten zwei weitere folgen (2007 und 2011). Erdogan revanchier­te sich: Anhänger Gülens stiegen im Staatsappa­rat auf. Gülen wurde zum Koalitions­partner ohne Partei. Doch nachdem alle politische­n Gegner der beiden ausgeschal­tet waren, zerbrach die Allianz am Streit um die Aufteilung der Kriegsbeut­e. Erdogan, damals noch Ministerpr­äsident, ließ die Nachhilfez­entren Gülens schließen. Damit versiegte eine der wichtigste­n Einnahmequ­ellen der Hizmet-Bewegung. Gülen tobte.

Kurz darauf wurden der Presse Mitschnitt­e geheimer Telefonate von Erdogan und seinen Angehörige­n zugespielt. Die Staatsanwa­ltschaft leitete ein Korruption­sermittlun­gsverfahre­n gegen Erdogan ein, der hinter all dem Fethullah Gülen vermutete. Erdogan erklärte Hizmet zur terroristi­schen Vereinigun­g. Eine weltweite Hetzjagd begann.

Nach dem Putschvers­uch vor einem Jahr gab Erdogan bekannt, Gülen sei der Drahtziehe­r. So steht es auch im Abschlussb­ericht des Untersuchu­ngssaussch­usses des türkischen Parlaments. Viele westliche Staaten zweifeln jedoch daran. So sagte der Chef des Bundesnach­richtendie­nstes, Bruno Kahl, dem „Spiegel“: „Die Türkei hat auf den verschiede­nsten Ebenen versucht, uns davon zu überzeugen. Das ist ihr aber bislang nicht gelungen.“Der Auswärtige Ausschuss im britischen Unterhaus vermutet eine Allianz aus Gülen-Anhängern und säkularen sowie opportunis­tischen Militärs hinter dem versuchten Machtwechs­el. Gülen behauptet, der Umsturzver­such sei eine Inszenieru­ng Erdogans, der dadurch seine Macht ausbauen wolle.

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