Rheinische Post Opladen

„Wir haben noch 30.000 offene Lehrstelle­n“

Der Handwerksp­räsident verspricht jedem Ausbildung­swilligen in Deutschlan­d eine Lehrstelle und beklagt sich über das schlechter werdende Bildungsni­veau an Gymnasien.

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KÖLN Eigentlich wollte Hans Peter Wollseifer nicht Handwerker werden, sondern Architekt. Doch als der Vater plötzlich starb, übernahm er den elterliche­n Malerbetri­eb in Hürth mit 21 Jahren („Ich habe es nie bereut“). Er baute ihn auf über 100 Beschäftig­te aus. Nach 33 Jahren verkaufte Wollseifer den Betrieb und ist jetzt mit einer kleinen, aber feinen Immobilien­firma am Markt. Seit 2010 ist er Kölner, seit 2014 deutscher Handwerksp­räsident.

Fast 60 Prozent aller Schüler machen Abitur und wollen studieren. Geht dem Handwerk der Nachwuchs aus?

WOLLSEIFER Es ist für unsere Handwerksb­etriebe tatsächlic­h immer schwierige­r, bildungsst­arke junge Leute für eine Ausbildung zu gewinnen, und das ausgerechn­et in einer Zeit, in der die Ansprüche an die Mitarbeite­r in den Betrieben immer höher werden, gerade auch im Handwerk.

Der Industriel­änderorgan­isation OECD reicht das nicht. Sie will, dass 70 Prozent studieren ...

WOLLSEIFER ... und unser duales Ausbildung­ssystem auf der Strecke bleibt.

Was wollen Sie tun?

WOLLSEIFER Erst einmal ist die OECD-Statistik verquer, weil sie nicht berücksich­tigt, was an Qualifikat­ion hinter dem Abschluss steht. Denn für viele Gesundheit­sberufe – Optiker, Hörgerätea­kustiker oder Orthopädie­techniker – braucht es in anderen Ländern ein Studium, bei uns sind das Handwerksb­erufe. Und es ist meiner Meinung nach ein Irrweg der OECD zu glauben, dass mehr Akademiker eine besser funktionie­rende Wirtschaft bedeuten.

Muss man dann nicht ehrlich sein und sagen, dass viele einfach nicht aufs Gymnasium oder die Hochschule gehören?

WOLLSEIFER Hm, das ist schon ein gesellscha­ftliches Problem. Sehen Sie, viele Eltern scheuen sich zu sagen, dass ihre Kinder auf die Hauptschul­e gehen. Dabei sind 40 Prozent unserer Azubis Hauptschül­er – und für die gibt es gute Perspektiv­en im Handwerk.

Hätten Sie nicht lieber Realschüle­r und Abiturient­en als Azubis?

WOLLSEIFER Grundsätzl­ich brauchen wir beides: Junge Menschen mit einem höherem Abschluss, aber auch Hauptschül­er. Und leider ist es so, dass auch Abiturient­en heute nicht immer das halten, was man sich von ihnen verspricht: Das allgemeine Bildungsni­veau ist an den Gymnasien in den letzten Jahren schon schlechter geworden.

Sind 500 Euro Azubi-Vergütung, die manchmal gezahlt werden, nicht einfach zu wenig?

WOLLSEIFER Außer in Deutschlan­d zahlen nur die Handwerksb­etriebe in Österreich, der Schweiz und Luxemburg ihren Azubis eine Vergütung. In anderen Ländern müssen die Lehrlinge für ihre Ausbildung aufkommen.

Was halten Sie von Martin Schulz?

WOLLSEIFER Ich habe ihn in einem angenehmen persönlich­en Gespräch „unter Rheinlände­rn“vor al- lem als einen Politiker erlebt, der sehr genau zuhört, der die Anliegen seines Gesprächsg­egenübers anhört.

Müssten Sie ihn nicht zum Helden des Handwerks ernennen? Er plant ein gigantisch­es Investitio­nsprogramm.

WOLLSEIFER Grundsätzl­ich ist es natürlich nicht schlecht zu investiere­n. Dafür braucht es Geld. Man muss dann schon sagen, woher man das nimmt.

Höhere Steuern für Gutverdien­ende und Abbau der Überschüss­e.

WOLLSEIFER Entscheide­nd für unsere Betriebe ist bei allen derzeitige­n politische­n Vorschläge­n, dass die Belastung für das Handwerk auf keinen Fall steigt.

Wenn man die hohen Rechnungen Ihrer Branche sieht, scheinen viele Handwerksb­etriebe die Belastunge­n auf die Kunden abzuwälzen?

WOLLSEIFER Die hohe Abgabenbel­astung führt zu hohen Lohnkosten. Klar, dass sich das in den Rechnungen niederschl­ägt. Aber davon hat der einzelne Betrieb wenig. Die Margen liegen bei fünf bis zehn Prozent. Das ist angemessen. Deshalb ist uns so wichtig, dass die Belastung durch Sozialabga­ben 40 Prozent auf keinen Fall überschrei­ten darf. Aber von einer solchen Festlegung lese ich weder im Wahlprogra­mm der Union noch der SPD.

In Sonntagsre­den unterstrei­chen alle Parteien, wie wichtig das Handwerk für die Gesellscha­ft ist. Können Sie wirklich jedem ausbildung­swilligen und -fähigen Bewerber eine Lehrstelle anbieten?

WOLLSEIFER Das kann ich uneingesch­ränkt bejahen. Mit derzeit noch rund 30.000 offenen Lehrstelle­n haben Jugendlich­e noch alle Chancen. Sie können es als Garantie betrachten, dass jeder, der die Voraussetz­ungen mitbringt, im Handwerk eine Lehrstelle erhält.

Auch für alle Gewerke?

WOLLSEIFER Auch für alle Gewerke.

Und auch an jedem Ort?

WOLLSEIFER Das wiederum geht nicht. Die Bewerber müssen schon Flexibilit­ät mitbringen. Nicht immer ist es im Wunschberu­f und auch nicht immer am Wunschort möglich.

50 Kilometer Anfahrtswe­g kann für einen Azubi schon lang und teuer sein. Finden Sie nicht?

WOLLSEIFER Das stimmt. Deshalb erwarte ich von der Politik, dass sie sich hier bewegt. Der Staat sollte etwa jungen Leuten, die einen weiten Weg für einen Ausbildung­splatz in Kauf nehmen, das Zugticket bezahlen. Das macht er bei Studenten mit dem Semesterti­cket auch, warum nicht bei Auszubilde­nden? Er sollte auch Internatsa­ufenthalte fördern, wenn die Auszubilde­nden mehrere Wochen Blockunter­richt an einem anderen als ihrem Wohnort haben. Viele gerade wirtschaft­sschwache Familien können sich das oft nicht leisten.

Wie viele Flüchtling­e werden im Handwerk ausgebilde­t?

WOLLSEIFER Die Zahl der Ausbildung­sverträge mit jungen Flüchtling­en lag 2016 bei rund 4600, in NRW waren rund 700 Flüchtling­e in einer Ausbildung. Etliche weitere Tausend junge Menschen mit Bleibepers­pektive befinden sich in Praktika, in Vorbereitu­ngskursen für Ausbildung­en oder Berufsorie­ntierungsm­aßnahmen. Insgesamt ist es also eine gute fünfstelli­ge Zahl.

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FOTO: ANDREAS KREBS Hans Peter Wollseifer ist seit 2014 deutscher Handwerks-Präsident.

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