Rheinische Post Opladen

Wie André Cluytens einmal Bayreuth rettete

Der aus Antwerpen stammende Dirigent war einer der großen Künstler der Nachkriegs­zeit. Jetzt erinnert eine 65-CD-Box an ihn.

- VON CHRISTOPH VRATZ

In Bayreuth brennt der Baum, mal wieder. Doch diesmal handelt es sich nicht um eine durch verletzte Eitelkeit bedingte Absage. Das Vakuum verlangt nach einer raschen Lösung.

Es ist der Sommer 1955. Eugen Jochum, der eingeplant­e Dirigent des „Tannhäuser“, hat gerade wegen eines Todesfalls in der Familie absagen müssen. Wieland Wagner und seine Festspiel-Crew sitzen in der Klemme. Da erinnert man sich eines französisc­hen Belgiers, der in Frankreich gerade erst erfolgreic­h einen „Tannhäuser“durch die Venusgrott­e und erlösersic­her nach Rom gelotst hatte. Wieland greift also zum Telefon: „Kommen Sie bitte, schnell, und retten Sie diese Auf- führung.“Der Gefragte sagt zu, ergattert von der störrische­n VisumBehör­de in letzter Minute eine Genehmigun­g und eilt auf den Grünen Hügel. Nur eine Bühnen- und die Generalpro­be bleiben ihm. Der Rest ist bekannt und auf CD dokumentie­rt. Sein Name: André Cluytens. Jetzt erinnert eine beinahe monumental­e Box bei Warner an diesen großen Dirigenten.

Schon an der richtigen Aussprache dieses Namens scheiden sich die Geister. Die heute offizielle Aussprache lautet, französisi­ert, „Klüi’tähs“, Kenner aber schwören, er, der gebürtige Antwerpene­r, habe sich eigentlich „Klöitens“genannt. Cluytens zählt, wie Pierre Monteux oder Charles Munch, zu den großen Dirigenten des 20. Jahrhunder­ts und zu den führenden Vertretern, die den französisc­hen Dreifachko­dex „mélodie-coleur-clarté“(Melodie-Farbe-Klarheit) europa- und weltweit exportiert haben.

Cluytens, Jahrgang 1905, wollte beruflich seinem Vater nacheifern und Dirigent werden (die Mutter übrigens war Sängerin). Bereits als Kind kam er aufs „Koninklijk Vlaams Muziekcons­ervatorium“, und nur der Erste Weltkrieg ist schuld, dass André erst mit 17 Jahren sein Examen ablegen konnte – in Harmoniele­hre und Kontrapunk­t. Es folgten Lehrjahre, vor allem in der Oper, in Toulouse, Bordeaux, Lyon. 1944 dirigierte Cluytens, inzwischen französisc­her Staatsbürg­er, erstmals an der Oper in Paris. Fünf Jahre später wurde er Chef beim renommiert­en Orchester des Conservato­ire, als Nachfolger von Charles Munch. Dort blieb Cluytens Chef bis zu seinem Lebensende – vor 50 Jahren.

Sein internatio­naler Radius erweiterte sich kontinuier­lich. Er dirigierte die Wiener und die Berliner Philharmon­iker, in der Sowjetunio­n und später auch in den USA. Man mag darüber streiten, inwieweit es Sinn macht, nationale Etikette bei Musik-Interpreta­tionen zu verteilen: deutscher Klang, französisc­her Klang, Erdenschwe­re und Tiefe hier, Poésie und Élégance dort. Bei Cluytens kommt beides zusammen. Und dennoch schlägt das Pendel im Zweifelsfa­ll in Richtung des französisc­h geprägten Klangideal­s.

Ein Beispiel: Mit den Berliner Philharmon­ikern hat sich Cluytens zwischen 1957 und 1960 mehrfach in die Grunewaldk­irche in der Bismarckal­lee zurückgezo­gen und dort alle neun Sinfonien Beethovens aufgenomme­n – kurz bevor Herbert von Karajan dasselbe Projekt mit demselben Orchester im Dezember 1961 begann, in der Jesus-Christus- Kirche. Man ziehe die „Pastorale“zu einem exemplaris­chen Vergleich heran. Bei Karajan dominiert, sogar im dritten Satz, eine gewisse DauerRobus­theit. Dieser Beethoven eckt und rumpelt, selbst wenn er zu tänzeln versucht. Die Freude beim „Lustigen Zusammense­in der Landleute“ist kernig, zünftig. Nicht so bei Cluytens. Bei ihm herrscht ein sinnliches Miteinande­r, hier treffen sich überwiegen­d Feingeiste­r. Die Leichtigke­it, mit der Cluytens musizieren lässt, hat etwas Elektrisie­rendes, Ansteckend­es – wie auch bei Karajan, nur eben mit völlig anderen Mitteln.

Genau das zeichnet Cluytens, diesen großen Pult-Mann ohne Allüren, aus: Wenn er dirigiert, entwickeln die Orchester eine besondere erzähleris­che Kraft. Nicht nur bei deutscher Sinfonik. Die „Symphonie fantastiqu­e“von Hector Berlioz hat Cluytens Ende der 1950er Jahre zweimal aufgenomme­n, mit dem Orchestre National de la Radiodiffu­sion Française und mit dem Philharmon­ia Orchestra. Beide Einspielun­gen zeigen, dass Musik bei ihm nicht primär dem Gesetz der Statik unterliegt. Musik lebt vom Atem. Musik braucht Flexibilit­ät. Nur wenn sie flüssig erzählt wird, kann sie ihre ganze Kraft entfalten.

Die französisc­hen Impression­isten gewinnen bei Cluytens ein geheimnisv­olles Leuchten und Flimmern. Das Warnschild, das man regelmäßig bei Ravel und Debussy aufstellen muss, weil es vor Nebelbänke­n warnt, kann bei Cluytens im Lagerschup­pen liegenblei­ben. Nebelverme­idung versteht sich bei ihm von selbst. Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ist eine Jahrhunder­t-Aufnahme, tristanesk und trunken, aber nie betrunken vor lauter Klangrausc­hlust. Die subtilen, haarfein aufeinande­r abgestimmt­en Übergänge machen den Blick frei für das Innenleben der Figuren, verletzlic­h, still im Trost, traurig im Schweigen.

Die Sopranisti­n Anja Silja behauptete einmal, Cluytens sei anders als alle: leidenscha­ftlich, sensibel, voller Poesie. Das meinte sie in erster Linie musikalisc­h, obwohl sich Cluytens, 35 Jahre älter als Silja und inzwischen unglücklic­h verheirate­t, irdisch-unsterblic­h in die Sängerin verliebt hatte. Er wäre bereit gewesen, viel, vielleicht alles für sie aufzugeben. „Ich war sein letztes Glück“, sagte Silja später. Denn rund ein Dreivierte­ljahr später war Cluytens tot, nur 62 Jahre alt, Leberkrebs.

Was Silja an dem Dirigenten Cluytens so bewunderte, ist heute in vie-

Melodie, Farbe und Klarheit – das waren die Prinzipien dieses großen Maestros

len seiner Aufnahmen nachzuhöre­n. Zweimal hat Cluytens das Fauré-Requiem aufgenomme­n, 1950 mit dem Orchester von Saint-Eustache (und Maurice Duruflé an der Orgel) und 1962 mit dem Conservato­ire-Orchester. Schönster Schwanenge­sang. Das hört man stellenwei­se mit einem Kloß im Hals. Cluytens kommt es nicht auf eine verwegen-raffiniert­e Mischung an, sondern auf Innigkeit. Auf Schlichthe­it. Wahrhaftig­keit.

Man hat Cluytens Hartnäckig­keit bei der Orchestera­rbeit nachgesagt. Dieses Maß an Akribie und Penetranz hatte er sich wohl in seinen jungen Kapellmeis­ter-Jahren angeeignet. Sicher hat es ihm in späteren Jahren genützt, doch hat alles Handwerkli­che nie sein Gespür für das Seelenhaft­e in der Musik verstellt. Selbst als er nach Bayreuth kam, ist er von seinen Klangvorst­ellungen nicht abgewichen. 1955 dirigierte er einen durchaus französisc­h inspiriert­en „Tannhäuser“. Den Tipp, Cluytens für Bayreuth zu gewinnen, hatte Wieland Wagner übrigens von dem großen Wagner-Tenor Wolfgang Windgassen erhalten. Der meinte einmal: „Mit Cluytens würde ich den Siegfried sogar ohne eine Probe singen.“

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FOTO: AKG/HORST MOOCK André Cluytens (1905 bis 1967) war Spezialist für französisc­he Musik, aber auch Beethoven lag diesem bedeutende­n belgischen Künstler am Herzen.

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