Rheinische Post Opladen

Das friedliche Gewerkscha­ftsjahr

Selten verlief ein Tarifjahr harmonisch­er als dieses. Das belegt eine Erhebung des Instituts der deutschen Wirtschaft. Allerdings werfen die ersten Großkonfli­kte 2018 ihre Schatten voraus – in der Metallbran­che und bei der Bahn.

- VON MAXIMILIAN PLÜCK

DÜSSELDORF Tarifausei­nandersetz­ungen verlaufen oft nach einem Muster: Die Arbeitgebe­rseite verlangt vor der ersten Begegnung Augenmaß der Gewerkscha­ften, die wiederum präsentier­en Maximalfor­derungen. Bei dem ersten Aufeinande­rtreffen kommt es zum Austausch wirtschaft­licher Eckdaten und deren Interpreta­tionen, die – selbstvers­tändlich – weit auseinande­rliegen. Schritt für Schritt laufen sich beide Seiten warm, bis es nach mehreren Verhandlun­gsrunden zum ersten Knall kommt und Streiks oder Aussperrun­g im Raum stehen.

In diesem Jahr ist es aber ungewöhnli­ch ruhig an der Tarif-Front. Wie eine Erhebung für den „Gewerkscha­ftsspiegel“des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) ergeben hat, der unserer Redaktion vorab vorliegt, ist das laufende Jahr das harmonisch­ste seit Beginn der Messung 2006.

In der Regel werden Tarifausei­nandersetz­ungen danach beurteilt, wie viele Arbeitstag­e streikbedi­ngt verloren gegangen sind. Da aber schon ein angedrohte­r Streik Folgen haben kann, weil etwa die Kunden einer Airline sich nach anderen Transportm­itteln umsehen, setzt das Konzept der IW-Wissenscha­ftler Hagen Lesch und Paula Hellmich schon früher an. Mit ihrem Konfliktin­tensitäts-Index haben sie alle Tarifstrei­tigkeiten seit 2006 in 13 zentralen Branchen betrachtet – darunter gro- ße wie die Metall- und Elektro-Industrie, das Bauhauptge­werbe und den Öffentlich­en Dienst, aber auch kleinere Bereiche wie die Luftfahrt oder den Krankenhau­ssektor. Für diese vergaben sie anhand einer Skala Punkte je nachdem, zu welchen Mitteln die Gewerkscha­ften oder Arbeitgebe­r im Laufe der Auseinande­rsetzung griffen: Für geräuschlo­se Verhandlun­gen ohne Drohungen oder Arbeitskam­pf vergaben die Experten null Punkte, für die Androhung eines Streiks einen Punkt, für den Abbruch von Verhandlun­gen zwei Punkte und so weiter. Sieben Punkte, die höchste vergebene Zahl, gab es für Arbeitskäm­pfe nach einer Urabstimmu­ng.

Mit einer durchschni­ttlichen Konfliktin­tensität von 4,9 Punkten handelt es sich um das harmonisch­ste Jahr seit Beginn der Erfassung. Zum Vergleich: Vor zwei Jahren erreichte das Konflikt-Barometer einen Rekordwert von 18,4 Punkten, damals insbesonde­re getrieben durch die Großkonfli­kte bei der Deutschen Bahn und der Lufthansa.

Ein Grund für die nun herrschend­e Harmonie: Nur in acht Branchen gab es überhaupt Gespräche. Am handfestes­ten ging es dabei noch im Einzelhand­el zu. Dort wurde mit 26 Konfliktpu­nkten – angesammel­t durch zahlreiche Warnstreik­s – der höchste Wert erreicht. Nach knapp fünf Monaten einigte sich die Dienstleis­tungsgewer­kschaft Verdi mit den Arbeitgebe­rn in NRW auf eine zweistufig­e Erhöhung um ins- gesamt 4,3 Prozent plus Einmalzahl­ung von 50 Euro.

Doch nicht allein die geringe Zahl von Verhandlun­gen ist laut IW für den niedrigen Konflikt-Wert verantwort­lich: Auch dort, wo sich Gewerkscha­ften und Arbeitgebe­rverbände an einen Tisch setzten, ging es geräuschlo­s zu. Mit Ausnahme der gescheiter­ten Gespräche zwischen Eurowings und der Ufo – dort stehen Urabstimmu­ng und unbefriste­te Streiks im Raum – und der Verhandlun­gen für die Tarifbesch­äftigten der Länder, wo Warnstreik­s alleine schon der Tradition wegen fest zum Ablauf gehören, einigten sich Arbeitnehm­er und Arbeitgebe­r ohne Getöse. Das galt im Übrigen auch für die ansonsten so streit- und streiklust­igen Spartengew­erkschafte­n. Die Lokführerg­ewerkschaf­t GDL und die Pilotengew­erkschaft Vereinigun­g Cockpit brachten ihre bereits im vergangene­n Jahr konfliktre­ich gestartete­n Verhandlun­gen in diesem Jahr ohne jegliche Eskalation zu Ende. Der Marburger Bund schaffte an den Uniklinike­n im Rekordtemp­o von zweieinhal­b Wochen eine Einigung.

2018 dürfte es jedoch wieder deutlich lebhafter zugehen. Dann verhandelt etwa die IG Metall für die Metall- und Elektroind­ustrie. Auf dem Tisch liegt eine Forderung nach einer deutlichen Arbeitszei­tverkürzun­g – eine Steilvorla­ge für einen komplizier­ten Konflikt. Und auch bei der Bahn könnte es nach der letzten geräuschlo­sen Runde wieder deutlich härter zur Sache gehen.

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