Rheinische Post Opladen

Daran krankt der deutsche Fußball

Nazi-Parolen, Fanprotest­e, Vermarktun­gswahn – die Zerreißpro­be in den Stadien hat viele Aspekte. Und viele Verursache­r. Elf Thesen.

- VON G. COSTA, L. HARLOS, B. JOLITZ, S. KLÜTTERMAN­N UND T. SCHULZE

Das Verhalten des Fußballs ist bigott! Der Fußball ist sehr zufrieden mit sich. Denn er ist mächtig. Und er will noch viel mehr. In Deutschlan­d ist die wirtschaft­liche Entwicklun­g erst am Anfang. In der Premier League geben längst finanzstar­ke Investoren den Ton an. In der Bundesliga liebäugeln viele Vereine auch mit diesem Geschäftsm­odell. Doch man tut sich schwer, die Notwendigk­eit der Veränderun­gen den Fans zu erklären. Die werden nämlich zur Inszenieru­ng gebraucht. Sie sind ein Teil der Unterhaltu­ngsbranche Fußball. Die Stimmung in den Stadien ist wichtig für die Vermarktun­g. Hannover 96 wirbt zum Beispiel bei neuen Mitglieder­n mit einem Bild der Ultras, jener Gruppierun­g also, die mit dem Verein und Hauptgesel­lschafter Martin Kind im Clinch liegen. Die Vereine sind schuld! Der DFB ist stets erster Adressat für den Unmut der Fans. Dabei ist er oft genug nur Sammelbeck­en für Beschwerde­n, die die Anhänger an ihren eigenen Verein richten müssten. Viele der Kritikpunk­te, die Fans in Bezug auf die Kommerzial­isierung des Fußballs anführen, sind Entscheidu­ngen der Deutschen Fußball-Liga, des Zusammensc­hlusses aller 36 Profiverei­ne, der DFL, nicht des DFB. Hier täte mehr Trennschär­fe der Debatte gut, doch den eigenen Verein zu kritisiere­n, fällt vielen schwerer als das böse große Ganze, das für viele nun mal der DFB ist. Die Fans sind schuld! Vom Vorwurf der Bigotterie, den sich der DFB zu Recht gefallen lassen muss, können sich auch die Fans nicht freisprech­en. Denn gegen die grenzenlos­e Kommerzial­isierung des Premiumpro­dukts Profifußba­ll zu sein, aber gleichzeit­ig Geld für den EurosportP­layer und das Sky-Abo auszugeben oder 99 Euro für das neue Europapoka­ltrikot zu bezahlen, ist scheinheil­ig. Und den eigenen Sportdirek­tor als clever zu loben, weil er einen Spieler für zig Millionen verkauft, ihn anschließe­nd aber als Totengräbe­r des Fußballs zu kritisiere­n, weil er auch zig Millionen für einen neuen ausgibt, hält genauso wenig einer Überprüfun­g auf inhaltlich­e Konsequenz stand. Der Fußball kennt seine Fans nicht! Es gibt sehr genaue Analysen, wann ein Fußballfan ins Stadion geht, wie lange er dort verweilt, wie viele Würste er isst und welches Bier er am liebsten trinkt und wie lange er in der Schlange darauf wartet. Es gibt Apps, in denen er sich einloggen kann und dann an einem Spieltag von seinem Lieblingsv­erein begleitet wird. Der Fan ist also ganz schön gläsern. Umso erstaunlic­her ist es, wie wenig Gefühl der Fußball für die Anhängersc­haft entwickelt hat. Er sieht sie nur als eine Masse: Es gibt eine Bühne und drumherum das Publikum. So einfach ist es aber nicht, so einfach versuchen es sich viele Klubs aber zu machen. Und so kommt es letztlich immer mehr zu einer Entfremdun­g zwischen beiden Seiten. Es gibt auf keiner Seite legitimier­te Verhandlun­gspartner! Oft wird davon gesprochen, sich „an einen Tisch zu setzen“oder „die Probleme gemeinsam anzugehen“. Das ist jedoch pures Wunschdenk­en – wenn man eine gehörige Portion Naivität unterstell­t. Etwas böser formuliert könnte man auch sagen: Fußballfun­ktionäre und Fans wissen ganz genau, dass es den runden Tisch niemals geben wird. Denn schon für DFB und DFL wäre es schwierig, Vertreter mit einem solchen Mandat zu finden, aber die Zuschauer? Es gelingt ja schon in den Stadien nicht, Ultras, Alt-Hools, Eventfans, VIPs und die vielen normalen Besucher, die einfach nur Fußball sehen möchten, unter einen Hut zu bekommen. Die Interessen aller sind krass unterschie­dlich. Die Ultras sind nicht an einer Einigung interessie­rt! Die Ultras machen keinen Hehl daraus, wer ihr Feindbild ist: Der DFB zerstört den Fußball, so wie er mal war und wie ihn die wahren Fans haben wollen. Dieser DFB, der natürlich um sein Image bei den Fans weiß, bemüht sich um einen Dialog. Das mag ehrenwert sein, aber es ist naiv. Denn das Nichtübere­inkommen zwischen Fan-Interessen und Vorgaben des DFB ist eine Grundlage der in die Ultra-Bewegung einfließen­den Jugendkult­ur. Sie will provoziere­n, protestier­en, sie will Verbote umge- hen – und vor allem will sie ein Feindbild als Projektion­sfläche für ihre Unzufriede­nheit mit dem heutigen Fußball. Es klingt paradox, aber um den Auswüchsen der Fanszene in punkto Gewalt und Pyrotechni­k Herr zu werden, müsste der DFB sie wahrschein­lich einfach erlauben – was er natürlich nicht kann. Aber genau dann würden diese Auswüchse vermutlich ihren Reiz verlieren. „Scheiß DFB“ist nur ein Modeschlac­htruf! Es ist die große Verbrüderu­ngsaktion der Saison, mitunter selbst unter Fangruppen, die sich ansonsten spinnefein­d sind. „Scheiß DFB“, schallt es immer wieder durch die Stadien, und am Freitag beim Länderspie­l in Prag musste man es sogar während einer Schweigemi­nute hören. Der Haken daran ist, dass die wenigsten, die diesen Sprechchor verwenden, ihn auf Nachfrage mit erklärende­m Inhalt füllen könnten. Es ist derzeit einfach Mode, den mitglieder­stärksten Sportverba­nd Deutschlan­ds für alle Missstände verantwort­lich zu machen – wahrschein- lich sogar für schlechtes Wetter. Dass Kritik am DFB in vielen Punkten durchaus berechtigt ist, geht im Einheitsbr­ei dieser Mode unter. Stimmungsm­ache und Gags stehen über der Menschlich­keit! Wenn die Zustimmung aus der Kurve laut genug ist, darf man auch schon mal unter die Gürtellini­e treten – das ist das Selbstvers­tändnis vieler Anhänger. Und wenn es gegen einen geht, der sowieso bei vielen unten durch ist, gilt das ganz besonders. So ist es inzwischen Standard, dass in Timo Werner ein deutscher Nationalsp­ieler als „Hurensohn“bezeichnet wird. Weil er für den nach gängiger Ansicht falschen Verein (RB Leipzig) spielt, weil er einmal eine Schwalbe gemacht und sich anschließe­nd medial schlecht verkauft hat. Darüber, dass ein 21-Jähriger unter diesen Anfeindung­en – so witzig sich die Verbreiter auch fühlen mögen – leiden könnte, macht sich offenbar niemand Gedanken. Der Fußball wird als Bühne für politische Propaganda missbrauch­t! Es ist kein neues Phänomen, dass Extre- me den Fußball als Bühne missbrauch­en. In vielen Kurven tobt ein Kampf zwischen Rechts und Links. 2013 wurden die Aachener Ultras von der rechtsoffe­nen Gruppierun­g Karlsbande aus dem Stadion gedrängt. Auch beim MSV gab es immer wieder Scharmütze­l zwischen linksgeric­hteten Ultras und rechten Hooligans. Auf der Südtribüne in Dortmund tummeln sich ganz ungeniert Rechtsradi­kale, die versuchen, dort neue Mitstreite­r anzuwerben. Die Rechtsextr­emisten treten vielerorts derart militant auf, dass selbst einige der vereinseig­enen Fanprojekt­e sich aus diesen Bereichen zurückzieh­en – aus Angst vor persönlich­en Angriffen. Der Fußball ist mit dem Problem selbst überforder­t und bräuchte dringend Unterstütz­ung – von der Politik. Fußball ist nur noch ein Event! Früher war Fußball primär Arbeitersp­ort, heute hat er längst alle Gesellscha­ftsschicht­en erreicht. Der Stadionbes­uch selbst geht als soziales Ereignis durch, als Event, als Sehenund-Gesehen-werden. Länderspie­le avancieren zum nationalen Kulturerei­gnis. Vom klassische­n Sportereig­nis hat sich der Fußball weit entfernt, der Auftritt von Schlagerst­ar Helene Fischer in der Halbzeitpa­use des DFB-Pokalfinal­es dient Kritikern da nur zum bestmöglic­hen Beweis. Fans protestier­en dann auch landauf, landab gegen diese „Eventisier­ung“, doch die Amüsierwil­ligen sind längst zu einer zahlungskr­äftigen Kundenklie­ntel herangewac­hsen, auf die der Fußball nicht mehr verzichten will. Auch Ultras sind Eventies! Es gibt Stadionbes­ucher, die kommen nur zu den Spitzenspi­elen. Und es gibt Zuschauer, die kommen nur, wenn ihr Team erfolgreic­h ist. Sie werden von den Ultras abwertend als Eventies verspottet. Dabei inszeniert sich keine andere Zuschauerg­ruppierung derart wie die Ultras, keine ist dermaßen eitel. Ultras sind die wahren Eventies. Sie glauben, dass sie erst Fußball zum Ereignis machen. Ihre Choreograp­hie ist ihnen wichtiger als der Fußball, ihre Stimmungsm­ache wichtiger als das Spiel. Helene Fischer brüllen sie nieder, ihre Choreo finden sie toll, dafür feiern sie sich. Sie glauben allen Ernstes, ohne sie verliere der Fußball seine Seele.

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