Taliban überschwemmen die Welt mit Heroin
Afghanistan bringt in diesem Jahr wohl die größte Opiumernte seiner Geschichte ein – und die Islamisten verdienen kräftig mit.
KABUL (dpa) Es war eine riesige Ladung: Hunderte hellgraue Kanister, säuberlich aufgereiht für die Fotos der afghanischen Polizei. Die hatte Anfang Juli in der westafghanischen Großstadt Herat in einem Lastwagen insgesamt 20.000 Liter Acetanhydrid gefunden, einen Stoff zur Heroinherstellung. Bestimmungsort: die Drogenfabriken im Süden. Wert: knapp neun Millionen Euro.
Die aufgeflogene Schmuggelladung wirft ein Schlaglicht auf eine geheime Industrie. Afghanistan ist schon lange berüchtigt als das Herz der globalen Drogenproduktion. 70 bis 90 Prozent allen Opiums in der Welt sind in den vergangenen Jahren von dort gekommen. Aber der Schlafmohn, aus dem Rohopium, Heroin und andere Opiate hergestellt werden, wuchert immer stärker. Bereits im vergangenen Jahr gab es mit geschätzten 4800 Tonnen Opium eine der drei größten jemals registrierten Ernten. In diesem Jahr übersteigt sie möglicherweise alles bisher Dagewesene.
Exakte Zahlen fehlen noch, aber David Mansfield, einer der wichtigsten Experten zum Thema und Autor vieler Studien, sagt: „Es besteht wenig Zweifel, dass die Ernte in diesem Jahr die größte wird, die Afghanistan jemals hatte.“Die Anbaufläche sähe diesmal noch größer aus als die 22.400 Hektar von 2014. Mansfield und seine Kollegen vom afghanischen Rechercheinstitut AREU werten geografische Daten aus und forschen in mehreren Provinzen.
Allein in der südafghanischen Provinz Helmand, die mit Abstand das meiste Opium hervorbringt, sehen sie sogar eine Expansion der Felder in ehemalige Wüstengebiete. Ein afghanischer Experte, der namentlich nicht genannt werden darf, stimmt zu. „Auf Satellitenbildern von Helmand sehen wir kaum noch Weizenfelder. Alles ist Mohn.“
In einigen Gegenden von Helmand wie etwa in Samin Dawar gebe es dank neuer Pflanzensorten mittlerweile drei Ernten pro Jahr, sagt Haschim Alokosai, ein Senator aus Helmand. In seinem Haus sind regelmäßig Delegationen aus der Provinz zu Gast. Bezirksräte, Bauern und Polizeichefs berichten von mehr Kämpfen, mehr Drogen, mehr Korruption – in einem Teufelskreis aus Ursache und Wirkung.
Die radikalislamischen Taliban beeinflussen oder kontrollieren wieder rund elf Prozent des Landes; weitere 30 Prozent sind umkämpft. Die UN verweisen in einem neuen Bericht zu den sozio-ökonomischen Ursachen des Opiumbooms darauf, dass die meisten Anbaugebiete in Gegenden liegen, in denen es wenig Regierungsleistungen gibt, wenig Sicherheit und damit für die Bauern wenig Zugang zu Märkten, um andere Produkte verkaufen zu können. „Schlafmohn ist eine natürliche Wahl für Bauern im Krieg, es birgt wenige Risiken in einer HochrisikoUmgebung“, sagt Jelena Bjelica vom Rechercheinstitut Afghanistan Analysts Network.
Was es noch schlimmer mache, sei, dass Regierungsbeamte „ihre schmutzigen Hände in dem Geschäft“haben, sagt Senator Alokosai bitter. Zum Beispiel: „Eine Spezialeinheit, die Opiumvorräte finden und verbrennen soll, registriert nur einen kleinen Teil der Drogen, die sie findet.“Den Rest verkauften die Männer. Das Drogengeld macht korrupte Beamte reich und damit einflussreich. Es hält die an der Macht, die das Geschäft noch besser beschützen und Gegenmaßnahmen hintertreiben können.
Es geht aber nicht mehr nur um den Anbau. Früher wurde das Rohopium oft im Ausland weiterverarbeitet. Opium ist der Grundstoff für viele verschiedene Drogen, unter anderem Heroin. Heute gebe es in Afghanistan „Drogenfabriken von internationalem Standard“, so etwa in den Bezirken Musa Kala, Waschir und Nausad, sagt Alokosai.
Der Senator ist einer der wenigen, der offen ausspricht, was sich tut in Afghanistan. Die Stille um das Thema ist bezeichnend. Die internationale Gemeinschaft scheint den Kampf gegen den Schlafmohnanbau aufgegeben zu haben. Projekte und Büros werden seit Jahren klei- ner und schlechter finanziert. Berichte sind rar und oft kurz. Weder Mitarbeiter des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung noch Experten der Regierung wollen namentlich zitiert werden. Es ist teilweise „Verlegenheit über ein monumentales Versagen“, wie ein westlicher Diplomat es nennt.
Allein die USA haben laut einem Bericht des Sonderinspekteurs des US-Senats für den Wiederaufbau in Afghanistan, John Sopko, seit 2002 rund 8,5 Milliarden Dollar für die Drogenbekämpfung ausgegeben. Trotzdem gibt es Schlafmohn in jedem dritten afghanischen Dorf. In einem Papier des Ost-West-Instituts über die Versuche, alternative Einkommensquellen für Bauern zu schaffen, hieß es 2016, Regierungs- Ein afghanischer Experte und Geber-Initiativen seien weder dauerhaft noch breit unterstützt gewesen, und Programmen habe es an Fachwissen gefehlt.
Das Wachstum der Drogenindustrie, das nicht nur nur vom Krieg befeuert wird, sondern auch von der weltweiten Nachfrage, ist für Afghanistan mehr als nur eine Frage der Kriminalitätsbekämpfung. Für den Staat geht es um seine Existenz.
Denn ein Hauptprofiteur des Opiumgeschäfts sind die Taliban, die die wachsenden Anbauflächen in ihren Gebieten besteuern und für den Schmuggel Schutzgelder kassieren. Laut UN-Sicherheitsrat haben sie 2016 etwa die Hälfte ihres Einkommens aus den Drogen bezogen – bis zu 400 Millionen Dollar. Die Regierung in Kabul kämpft also nicht nur gegen islamische Extremisten, sie kämpft zugleich auch gegen Drogenbarone. Ein Kampf, der ohne eine Lösung der Opiumfrage wohl nicht zu gewinnen ist.
„Auf Satellitenbildern der Provinz Helmand sehen wir kaum noch Weizenfelder. Alles ist Mohn“