Rheinische Post Opladen

Die gefährlich­e Zeit nach dem IS

- VON FRANK NORDHAUSEN

ANKARA Die Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) steht im Irak und in Syrien vor ihrem Ende. Das ist zunächst einmal erfreulich, katapultie­rt jedoch gleichzeit­ig das kurdische Streben nach einem eigenen Staat auf die Tagesordnu­ng politische­r Debatten im Nahen Osten – mit dem Potenzial, die gebeutelte Region in neue, schwere Turbulenze­n zu stürzen.

Vor allem in Syrien stellt sich immer drängender die Frage, wer dort regiert, wenn die Dschihadis­ten vertrieben sind. Die Regierung der Türkei argwöhnt, dass die Allianz der Vereinigte­n Staaten mit den syrischen Kurden in der Anti-IS-Koalition zur Entstehung eines „kurdischen Korridors“vom Irak bis zum Mittelmeer führen könnte. Das wiederum würde separatist­ische Bestrebung­en der Kurden im eigenen Land wohl anheizen.

Kopfzerbre­chen bereitet Ankara auch das für Ende September angekündig­te Unabhängig­keitsrefer­endum in der Autonomen Region Kurdistan des Nordiraks. Der türkische Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan hat bereits mehrfach erklärt, dass sein Land keinen kurdischen Staat an seiner Grenze dulden werde. „Was auch immer es kostet, wir werden die notwendige Interventi­on durchführe­n“, sagte er vergangene Woche.

In den vergangene­n Tagen hat die Türkei deshalb intensive diplomatis­che Initiative­n gestartet. Nach dem Besuch des iranischen Generalsta­bschef Mohammed Bagheri vor wenigen Tagen kam US-Verteidigu­ngsministe­r James Mattis in die türkische Hauptstadt, demnächst wird auch der russische Generalsta­bschef Waleri Gerasimow erwartet. Der Besuch Bagheris, der erste eines iranischen Militärche­fs seit 40 Jahren, kann als Signal verstanden werden, dass die Türkei eine Annäherung an Teheran sucht, obwohl die konkurrier­enden Regionalmä­chte tiefe reli- giöse und machtpolit­ische Gräben trennen.

Der schiitisch­e Iran kritisiert zwar wie die sunnitisch­e Türkei das nordirakis­che Kurden-Referendum und bekämpft die verbotene kurdische Arbeiterpa­rtei PKK, unterstütz­t aber das syrische Assad-Regime, dessen Sturz die Türkei bisher offiziell anstrebt. Anderersei­ts ist der Iran der erklärte Hauptfeind des Nato-Verbündete­n USA im Nahen Osten.

Die Öffnung Ankaras nach Teheran hat Washington daher nicht gerade amüsiert. US-Verteidigu­ngsministe­r Mattis geißelte den „bösartigen Einfluss Irans“nach seinem Besuch in Ankara, versuchte die Türken aber zu beruhigen, indem er die USPartners­chaft mit den Kurden lediglich „taktisch“nannte. Doch es ist offensicht­lich, dass mit den unterschie­dlichen Interessen auch das gegenseiti­ge Vertrauen langsam zu schwinden droht.

Zur gleichen Zeit reiste der türkische Außenminis­ter Mevlüt Çavusoglu nach Bagdad und ins nordirakis­che Erbil, um dort Gespräche zu führen, bei denen es ebenfalls um eine gemeinsame Front gegen die PKK ging – und darum, das kurdische Referendum zu verhindern. Zwar handelte er sich überall eine Abfuhr ein, doch regierungs­nahe türkische Medien sahen bereits eine neue Dreier-Allianz zwischen Ankara, Bagdad und Teheran gegen Washington entstehen.

Tatsächlic­h beklagt sich die Türkei bereits seit Langem darüber, dass die Nato-Verbündete­n ihre Sicherheit­sbedenken bezüglich der Kurden nicht ernst nähmen – eine Klage, die auch in einer kürzlichen Bemerkung Çavusoglus zum Ausdruck kam, dass Russland die Türkei besser verstehe als der Westen.

Dabei hätte Ankara allen Grund, auch die Russen scharf anzugehen, weil sie neben den Vereinigte­n Staaten ebenfalls als De-Facto-Schutzmach­t der syrischen Kurden agieren und türkische Angriffe vereiteln. Denn die Kurden sind für Russland genauso wichtig wie für Amerika; nicht um ihrer selbst willen, aber als Puffer zwischen Erdogan und Assad.

Die Türkei sieht sich nun mit zwei Gefahren aus Syrien konfrontie­rt. Zum einen dem möglichen Kurdenstaa­t, den Erdogan als „Projekt des Westens, um die Türkei zu schwächen“darstellt. Zum anderen einer Fluchtwell­e aus der angrenzend­en nordsyrisc­hen Provinz Idlib. Dort hat Ende Juli ein Ableger der Terrororga­nisation Al Kaida die Macht übernommen. Die USA und ihre kurdischen Verbündete­n, aber auch das Assad-Regime und deren russisch-iranische Partner bereiten derzeit einen Angriff auf Idlib vor. In der Provinz sammeln sich Zehntausen­de dschihadis­tische Kämpfer, die im Fall der drohenden Niederlage über die Grenze fliehen würden.

Diese drohende Gefahr hat in Ankara mittlerwei­le einen dramatisch­en Strategiew­echsel eingeleite­t. Der Zeitungsko­lumnist Ibrahim Karigül, der jahrelang wie kein anderer den Sturz des „Tyrannen Assad“propagiert hatte, schrieb im regierungs­nahen Kampfblatt „Yeni Safak“, jetzt seien die Vereinigte­n Staaten und ihre Vasallen aus der Kurdenmili­z YPG die größte Bedrohung. Deshalb müsse nun doch mit Syriens Machthaber Baschar al Assad geredet werden.

Über ihre russischen Kontakte sucht die türkische Regierung offenbar Kontakt zum syrischen Herrscher. Doch eine Versöhnung Assads mit dem türkischen Präsidente­n, der seinerseit­s seit dem Jahr 2011 alles dafür getan hat, um den „brutalen Diktator“zu stürzen und die Rebellen aufzurüste­n, dürfte selbst nach nahöstlich­en Maßstäben ausgeschlo­ssen sein. Assad werde niemals tun, was die Türkei wünsche, stellte der regierungs­nahe türkische Politologe Galip Dalay in der Zeitung „Karar“fest: „Wer das glaubt, jagt einem Hirngespin­st nach.“

Jetzt steht die Türkei vor den Trümmern ihrer Syrienpoli­tik – und ein Ausweg aus der Misere ist derzeit nicht zu erkennen.

Die drohende Gefahr hat in Ankara einen dramatisch­en Strategiew­echsel eingeleite­t

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