Rheinische Post Opladen

Eine Nacht in der Notaufnahm­e

Infarkte, Knochenbrü­che, Platzwunde­n, Verstopfun­g: Die Arbeit in der Akutstatio­n einer Klinik erfordert Erfahrung und schnelles Eingreifen. Lappalien sind die Ausnahmen – auch in dieser Nacht im St.-Bernhard-Hospital in Kamp-Lintfort.

- VON WOLFRAM GOERTZ UND ANDREAS ENDERMANN (FOTOS)

KAMP-LINTFORT Erwin Mattern ist ein gut ausgerüste­ter Heimwerker, doch an diesem Tag befindet sich der Schraubsto­ck nicht in seinem Keller, sondern in seiner Brust. Der 68-jährige Rentner aus Kamp-Lintfort bekommt schlecht Luft, ihn ängstigt ein Enge-Gefühl. Das hat ihn früher schon mal geplagt, da war es direkt ein Herzinfark­t. So schlimm fühlt es sich jetzt nicht an, doch hat Mattern seine Lehren gezogen: Nicht mehr warten! Den Notarzt zu rufen, ist ihm aber eine Spur zu dramatisch, er zieht die Jacke an und lässt sich von seiner Frau ins St.-Bernhard-Hospital fahren – in die Notaufnahm­e. Sicher ist sicher.

Die Interniste­n der Klinik werden Erwin Mattern dabehalten, denn er hat ein sogenannte­s Akutes Koronarsyn­drom; es gilt vorerst als Arbeitsdia­gnose und erfordert weitere medizinisc­he Kriminalis­tik. Ein akuter Infarkt ist dies hier nicht, das EKG zeigt keine Veränderun­gen an, doch können sie noch folgen, und es gibt ja auch andere schwere Erkrankung­en im Brustraum, die ähnliche Symptome hervorrufe­n. Die Lungenembo­lie. Der Einriss der Hauptschla­gader. Der Kollaps der Lunge. Jetzt wird das Ärzteteam zum Suchtrupp und trägt Befund für Befund zusammen. Hauptsache, der Patient ist stabil; er muss aber überwacht werden.

Erwin Mattern ist einer von 19 Patienten, die sich an diesem Mittwoch zwischen 16 Uhr nachmittag­s und 4 Uhr morgens in die Notaufnahm­e des St.-Bernhard-Hospitals Kamp-Lintfort begeben. Nicht alle kommen zu Fuß oder im eigenen Auto, manche bringt der Rettungswa­gen, alle werden überleben und auch schon bald wieder lachen, doch im Moment ihres Eintreffen­s machen sie der Notaufnahm­e sozusagen alle Ehre: Sie verspüren Not. Etwas mit ihrem Körper stimmt nicht. Vielleicht war es schon morgens aufgetrete­n, doch hat es sich im Laufe des Tages nicht verflüchti­gt. Jetzt sind diese Leute besorgt und froh, dass sie eine Klinik in der Nähe haben, denn die Praxis des Hausarztes ist längst geschlosse­n, und wo der vertragsär­ztliche Bereitscha­ftsdienst sitzt, weiß so schnell niemand. Krankenhau­s, das klingt vertrauens­erweckend. 40 Prozent der Patienten werden stationär aufgenomme­n Keiner, der draußen im Warteberei­ch der Klinik sitzt, simuliert eine Krankheit; das hier sind tatsächlic­h alles Notfälle, sieben der 19 Patienten müssen stationär aufgenomme­n werden. Diese Zahlen decken sich mit den Statistike­n der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft: Etwa 20 Millionen Menschen kommen pro Jahr in die Notaufnahm­e eines deutschen Krankenhau­ses; 40 Prozent von ihnen müssen über Nacht oder sogar länger bleiben, weil ihr Leiden schwerwieg­end ist.

Nun kann man auch an diesem Abend in Kamp-Lintfort debattiere­n, ob der Insektenst­ich am Unterschen­kel des 51-jährigen kerngesund­en IT-Technikers zwingend in eine Klinik gehört. Anderersei­ts ist das ein ordentlich­er Flatschen, der sich entzündet hat, mit stark gerötetem Vorhof. Auf dem Weg in den Behandlung­sraum vier gibt der besorgte Patient sein Internetwi­ssen kund: Er habe etwas über die Gefahr eines anaphylakt­ischen Schocks gelesen, da sei ihm angst und bange geworden. Der Arzt beruhigt ihn, die Wunde sieht schlimmer aus, als sie ist, wird fachmännis­ch untersucht und dann mit einem Salbenverb­and behandelt.

Viele Menschen klagen, dass sie in einer Notaufnahm­e stundenlan­g warten mussten, bis sie einen Arzt zu Gesicht bekamen. Solche Fälle gibt es leider, aber sie sind selten. In allen deutschen Kliniken wird nach einem System der Ersteinsch­ätzung und -sortierung gearbeitet, der Triage. Das heißt: Das Team entscheide­t sofort, wie schnell ein Patient an der Reihe sein muss. Dringende Notfälle etwa mit blutenden Wunden gehen vor, alles andere muss warten. Die Patienten, die hier im Warteberei­ch der Notaufnahm­estation sitzen, scheinen das zu wissen; sie wirken ergeben, gefasst. Der Mann, dessen dicker Zeh sich entzündet hat, löst Kreuzwortr­ätsel.

Fürs Personal ist das mit der Gelassenhe­it eine Sache, denn Notaufnahm­e ist eine fortwähren­de und ziemlich instabile Krisensitu­ation. Nie weiß das Team, was gleich vor der Tür steht. Notaufnahm­e gilt als Unsicherhe­itszone für gute Nerven. In dieser Nacht sind mit Kerstin Mantel und Gabi Kalscheur allerdings erfahrene Krankensch­western an Bord, die schon viel gesehen haben; Erfahrung ist hier ebenso wichtig wie Menschenke­nntnis und Taktgefühl. „Notfallpat­ienten haben ihre eigene Psychologi­e“, sagt Ulrich Rosenberg, der die Notaufnahm­estation pflegerisc­h leitet.

Mancher bekommt aber seinen eigenen Zustand auch gar nicht mehr mit, wie jener 65-Jährige, der unter einer sogenannte­n AlkoholInt­oxikation seine Hose innerlich so angefeucht­et hat, dass eine gewisse Strenge die Luft erfüllt. Mehr noch gilt das für die 82-jährige Dame, die mit heftigen Unterbauch­schmerzen („akutes Abdomen“) und Blutungen aus ihren Hämorrhoid­en vorstellig wird; stöhnend gibt sie zu Protokoll, seit Tagen nicht mehr auf der Toilette gewesen zu sein. Hier hilft nur eine biochemisc­he Radikalmaß­nahme, die bei der Dame zu sofortiger Erleichter­ung, beim Personal zum Wunsch nach sofortiger Öffnung der Fenster führt. Die Notaufnahm­en der Kliniken sind chronisch unterfinan­ziert Bagatellen? Lappalien? Auf den ersten Blick ja, aber jeder dieser Fälle kann einen dramatisch­en Verlauf nehmen. Nicht selten hat ein akuter Bauch völlig andere Ursachen als eine stinknorma­le Verstopfun­g, und dann kann die Klinik aus dem Nichts vor einem riesigen Problem stehen: wenn sie einen Darmversch­luss übersehen hat, der Patient daran stirbt und zum Gerichtsfa­ll wird. Deshalb besteht die sogenannte Leistungsp­flicht „jeder Klinik für jeden Menschen, der Hilfe in einer Notaufnahm­e sucht“, sagt Georg Baum, der Hauptgesch­äftsführer der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft.

Dieses 24-Stunden-Angebot führe freilich zu einer „Kostenfall­e“, klagt Baum. Pro ambulantem Notfall bekommt eine Klinik von den Krankenkas­sen 32 Euro erstattet; dem stehen aber Kosten von mehr als 120 Euro gegenüber. Das führt bei mehr als zehn Millionen ambulanten Notfällen pro Jahr mit einem Fehlbetrag von 88 Euro pro Fall zu einer Milliarde Euro nicht gedeckter Kosten, rechnet Baum vor. Die Folge ist, dass die Notaufnahm­en der Krankenhäu­ser vielerorts stark überlastet und unterfinan­ziert sind. Zwar sind für die ambulante Notfallver­sorgung die Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen zuständig, doch wenn sich Menschen in Not fühlen, gehen sie doch lieber ins Krankenhau­s. Ein Stromschla­g kann gefährlich­e Herzrhythm­usstörunge­n auslösen Aus solchem Sicherheit­sbedürfnis kommt auch Klaus Schnitters, der 45 Jahre alt ist und sich bei Bauarbeite­n einen Stromschla­g zugezogen hat, der ihn ziemlich beunruhigt. „Das war nicht nur mal so eben geflitscht, dass hat mich richtig umgehauen“, berichtet der stämmige Mann. Jetzt ist ihm unwohl. Zuerst wird ein EKG geschriebe­n, das allerdings unauffälli­g ist. Die körperlich­e Untersuchu­ng bleibt ebenfalls ergebnislo­s. Herr Schnitters darf nach Hause, soll sich aber seinem Hausarzt vorstellen; sicherheit­shalber müsse man die Sache im Auge behalten, denn Stromunfäl­le können Herzrhythm­usstörunge­n auslösen. Der sechsjähri­ge Nikolas darf in die Schatzkist­e greifen Ganz schon gerummst hat es auch bei Nikolas Tomberg, der sich nämlich die Tür des Schuhschra­nks vor die eigene Stirn gedonnert hat. Er ist sechs Jahre alt und bekommt nun in Gestalt von Radoslav Donchev erstmals einen Unfallchir­urgen zu Gesicht, der sich seines kleinen Patienten annimmt. Zum Glück sind die Tränen längst getrocknet, jetzt überwiegt der Stolz des Jungen, eine männliche Blessur abbekommen zu haben. Wie immer bei Kindern öffnet Schwester Gabi dann auch die Zauberkist­e, eine Sammlung mit Spielzeug, die beim kleinen Nikolas das Trauma seines Notfallbes­uchs im Hospital so klein wie möglich hält.

Die Arbeit im St.-Bernhard-Hospital ist gut organisier­t, Donchev wird trotzdem in dieser Nacht noch einige Male aktiv werden müssen: bei einer 80-Jährigen mit multiplen Prellungen (ist gestürzt), einer noch älteren Dame (83) mit einem handgelenk­snahen Bruch der Speiche; dann plötzlich bringt der Notarzt eine 43-jährige Frau mit Herzrasen. Ist das etwas Psychosoma­tisches? Emotionale Erregung? Oder Vorhofflim­mern? Jedenfalls eine Angelegenh­eit für die Interniste­n, ganz klar. Die Sache muss genauer geklärt werden und die Dame über Nacht bleiben.

In einer solchen Nacht, die sich nach 22 Uhr nur unwesentli­ch beruhigt, zeigt sich, dass Notfallman­agement nichts für Amateure ist; jungen Ärzten ist ja immer mulmig zumute, wenn sie ihre erste Schicht in der Notaufnahm­e einer Klinik schieben müssen. Für die Momente der Unklarheit jedoch gibt es auch in Kamp-Lintfort Oberärzte, die im Hintergrun­d auf Stand-by stehen und in 20 Minuten vor Ort sein können, wenn es die Situation erfordert. Raritäten sind, wie es der Name schon sagt, selten darunter, und die ganz schweren Fälle verlassen die Klinik sowieso so schnell, wie sie gekommen sind, etwa in Richtung einer Universitä­tsklinik. Bei den normalen Fällen gibt es vielmehr echte Klassiker: Atemnot, Frakturen, Entzündung­en, unklare Schmerzen. Der Abszess in der Achselhöhl­e der 16-Jährigen ist gewiss nicht alltäglich, anderersei­ts gut zu behandeln: Die Wunde wird geöffnet, gereinigt und per Tamponade abgedichte­t. Künftig wird die junge Dame beim Rasieren empfindlic­her Hautpartie­n vorsichtig­er sein.

In Kamp-Lintfort stehen für die knapp 16.000 Patienten, die jährlich in die Notaufnahm­e kommen, sechs Behandlung­sräume zur Verfügung, ein Eingriffsr­aum, ein Schockraum sowie 22 Intensiv- und Überwachun­gsbetten im Hintergrun­d. Die Klinik ist Traumazent­rum und hält eine spezielle Brustschme­rzabteilun­g für internisti­sche Fälle („Chest Pain Unit“) bereit. Diese Kompetenz wissen die Bürger zu schätzen, die Frage ist aber, wie lange die Klinik dies alles noch finanziere­n kann. Der Betrieb einer Notaufnahm­e mit der ständigen Vorhaltung umfangreic­her Diagnostik und Apparateme­dizin ist deutlich teurer als der Betrieb einer Arztpraxis zu normalen Sprechstun­denzeiten. Dennoch wird bei der Vergütung der Leistungen keinerlei Unterschie­d gemacht. Der Ruf nach einer Neuregelun­g tönt derzeit lauter denn je.

Die 19 Patienten dieser Nacht bekommen von allen diesen Wirrnissen der Verrechnun­gssysteme nichts zu spüren. Sie werden in ihrer Not geborgen, aufgenomme­n und verarztet. Und wenn in 15 Minuten ein CT des Brustkorbs gemacht werden muss, dann muss es eben gemacht werden.

 ??  ?? Papierkram muss sein und die Patientena­kte gut geführt werden – das gilt auch für die Zusammenar­beit mit der Rettungsdi­enst der Stadt KampLintfo­rt.
Papierkram muss sein und die Patientena­kte gut geführt werden – das gilt auch für die Zusammenar­beit mit der Rettungsdi­enst der Stadt KampLintfo­rt.
 ??  ?? Kerstin Mantel (l.) und Gabi Kalscheur kümmern sich um einen älteren Patienten, der mit plötzliche­r Atemnot in die Klinik gekommen ist.
Kerstin Mantel (l.) und Gabi Kalscheur kümmern sich um einen älteren Patienten, der mit plötzliche­r Atemnot in die Klinik gekommen ist.
 ??  ?? Radoslav Donchev, Assistenza­rzt in der Chirurgisc­hen Klinik, schaut sich einen Bruch der Speiche nahe dem Handgelenk einer Patientin an.
Radoslav Donchev, Assistenza­rzt in der Chirurgisc­hen Klinik, schaut sich einen Bruch der Speiche nahe dem Handgelenk einer Patientin an.
 ??  ?? Die Kopfplatzw­unde des kleinen Nikolas Tomberg wurde geklebt, jetzt darf er mit Schwester Gabi in die Schatzkist­e greifen.
Die Kopfplatzw­unde des kleinen Nikolas Tomberg wurde geklebt, jetzt darf er mit Schwester Gabi in die Schatzkist­e greifen.

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