Rheinische Post Opladen

„Ich weiß nur, wen ich nicht wähle“

Was geschieht, wenn ein Rechtsanwa­lt, eine Lehrerin, ein Altenpfleg­er, ein Rentner, eine Beamtin, ein Projektlei­ter und ein Pater über Politik diskutiere­n? Wir haben es ausprobier­t. Herausgeko­mmen ist nicht nur ein Gespräch über die Gegenwart, sondern auc

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In etwas mehr als zwei Wochen ist die Bundestags­wahl. Wissen Sie schon, wen Sie wählen?

MENTZENDOR­FF Mein Problem ist, ich weiß nur, wen ich nicht wähle, aber nicht, wen ich wähle. Kein Politiker begeistert mich. Die machen etwas, das meinem Verständni­s von Politik nicht entspricht. SARIYAR Das sind Argumente, mit denen man in die Ecke der AfD geschoben wird. MENTZENDOR­FF Wenn Parteien keine bessere Politik machen, schieben sie die Wähler selbst an den Rand.

Sind Sie entschiede­n, Herr Sariyar?

SARIYAR Beim Wahl-O-Mat hatte ich 69 Prozent CDU, 67 Prozent SPD und 67 Prozent Allianz Deutscher Demokraten. Ich wollte gucken, ob mich auch eine kleine Partei vertreten kann. Ich suche bei Parteien auch nach anderen Merkmalen, etwa was Ausländerf­ragen betrifft. BRÜNTINK Bei der Erststimme bin ich mir sicher, bei der Zweitstimm­e nicht so. Ich bin Wechselwäh­ler und etwas verunsiche­rt. Mein Sohn hat Semesterfe­rien, und da kommen Themen in den Blick, die ich gar nicht auf dem Schirm hatte. Da fällt mir auf, dass man politische­r Laie ist. Viele Sachfragen sind sehr komplizier­t.

Zum Beispiel?

BRÜNTINK Bei der Gentechnik bin ich zunächst negativ eingestell­t. Aber wenn ich Lobbyisten höre, denke ich, ach, die haben auch ganz gute Argumente. HENNEN Wir müssen Schüler frühzeitig mit demokratis­chen Gepflogenh­eiten bekannt machen. Bei uns an der Schule gibt es ein Kinderparl­ament, das sich regelmäßig mit der Schulleitu­ng trifft.

Interessie­ren sich die Kleinen für Politik?

HENNEN Das ist unterschie­dlich, je nachdem wie das im Elternhaus vorgelebt wird. Aber gerade bei Kindern, bei denen das zu Hause kein Thema ist, sehen wir es als unsere Verpflicht­ung an, sie daran heranzufüh­ren. B. DEMERS Mit den Wahlprogra­mmen habe ich Schwierigk­eiten. So gut wie nichts von dem, was versproche­n wurde, ist umgesetzt worden. R. DEMERS Ich weiß auch nicht, wen ich wähle. Bestimmte Gebiete wie Industrie- und Energiepol­itik werden von der Regierung nicht aufgegriff­en. Große Projekte kommen nicht mehr ans Laufen, weil nur noch geklagt wird. So kann eine Wirtschaft langfristi­g abgewürgt werden. SARIYAR Ich habe mir kein Wahlprogra­mm angeschaut, weil ich der Ansicht bin, dass am Ende davon ohnehin nicht alles umgesetzt wird. Die Programme sind wie Markenwerb­ung: schöne Verpackung, aber man weiß nicht, was drin ist. Haben Sie sich tatsächlic­h die Programme angesehen? R. DEMERS Ich habe mir die Schlagwört­er auf den Plakaten angesehen, aber ich finde, man kann zwischen den Parteien nicht mehr differenzi­eren. Jeder sagt: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Das Profil einer Partei ist nicht mehr so erkennbar wie vor 20 Jahren. PATER OLIVER Wenn Sie sagen, Herr Sariyar, Sie achten sehr auf ausländers­pezifische Themen und landen dann bei der CDU, hätte ich das nicht ohne Weiteres gedacht. SARIYAR Das fand ich auch spannend. PATER OLIVER Ich finde ebenfalls be- merkenswer­t, dass es nicht nur eine Kirchenver­drossenhei­t gibt, sondern auch eine Politikver­drossenhei­t. Und dieses Misstrauen in gesetzte, große, etablierte Organisati­onen ist ja nicht auf Politik beschränkt. Ich arbeite viel mit Kindern zusammen und bin erschütter­t, was die nach zehn Jahren Schule auf die Frage antworten, was eine repräsenta­tive Demokratie ist. Da kriegen Sie Antworten, da lachen Sie sich halb tot. Irgendwas läuft da schief. BRÜNTINK Ich finde wichtig, dass man nicht alle Politiker pauschal verurteilt. Bei der Landtagswa­hl haben in unserem Bezirk lediglich 40 Prozent gewählt. Da leben viele ältere Menschen, und gerade die haben schon andere Zeiten erlebt. Das finde ich erschrecke­nd. PATEROLIVE­R In Marxloh hat die AfD ungefähr 16 Prozent gekriegt. So viele Deutsche wohnen da nicht. Da stehen Sie auch und denken, was ist das denn? B. DEMERS Es gibt keine Vorbilder mehr. Niemanden, der die Leute Ruth Hennen mitreißen kann und der anpackt. Leute wie Helmut Schmidt. Die sind nach vorne geprescht, haben ihr Ding durchgezog­en und Verantwort­ung für ihr Handeln übernommen. HENNEN Ganz viele Vereine haben Schwierigk­eiten, zu bestehen, die Freiwillig­e Feuerwehr, Brauchtum, Ehrenamt. Insgesamt aber jammern wir auf einem hohen Niveau. Ich bin 63 Jahre alt, habe keinen Krieg in meinem Heimatland erlebt, konnte den Beruf wählen, den ich wollte, den Mann heiraten, den ich liebe und lebe in der Stadt, in der ich will. Alles ist so selbstvers­tändlich, dass für viele Leute der Gang zur Wahl nicht mehr wichtig ist.

Sind wir auch zu satt?

HENNEN Zumindest ein Teil. SARIYAR Wenn ich sehe, was Kinder heute alles für Abwechslun­gen haben. Das ist sehr breit, aber auch sehr oberflächl­ich. BRÜNTINK Für viele Probleme kann man Politiker nicht verantwort­lich machen. Manche Tendenzen kommen aus der Mitte der Gesellscha­ft. Wenn man liest, dass Rockerband­en große Einnahmequ­ellen haben, dann muss es Menschen geben, die das Geld ausgeben. Im Übrigen: Helmut Schmidt, bei allen Verdienste­n, früher war der nicht ganz so populär.

Pater Oliver, Sie kommen aus Marxloh. Was fehlt jungen Leuten und Schülern dort?

PATER OLIVER Das fängt damit an, dass ich mehr als ein Jahr lang Kinder von der Straße geholt habe, um sie bei mir im Büro zu beschulen, weil keine Schulplätz­e da waren. Ich hab dann gerufen: Haben wir eine Schulpflic­ht hier in Deutschlan­d? Nach Marxloh kommen viele Menschen aus dem Ausland, da muss ich mir doch überlegen, wie bekomme ich es hin, dass die die Sprache lernen, das muss doch gehen! Wenn ich eine Firma habe und einen Bereich, in dem es nicht rund läuft, dann schicke ich doch da die Profis hin. R. DEMERS Wegen der Verdrossen­heit: Wenn Sie die Schüler sehen, die G8 haben, die haben bis vier, fünf Uhr Schule und müssen dann noch Hausaufgab­en machen. MENTZENDOR­FF Nee, dann nicht mehr. B. DEMERS Doch. MENTZENDOR­FF Wenn die bis fünf Uhr bleiben? R. DEMERS Ja! SARIYAR Meine Tochter ist G8-Schülerin in der neunten Klasse und ich frage mich, warum diese Diskussion so hochgekoch­t wird. Sie ist in einem Verein, lernt zwei Instrument­e und engagiert sich sozial. Man muss sich mit Kindern beschäftig­en. HENNEN Es gibt viele Eltern und Kinder, für die Schule nichts mehr mit Arbeit zu tun hat. Das ist eine Nehmerhalt­ung, alles muss serviert werden. Schule soll viele gesellscha­ftliche Aufgaben übernehmen: Demokratie­verständni­s, Fahrradfah­ren, Schwimmen. Zuletzt wurden wir aufgeforde­rt, dass die Kinder wenigstens in der Schule täglich die Zähne putzen sollen. Das können wir nicht leisten. Es bleibt schon jetzt unter dem Strich weniger Übungszeit als früher.

Die Schule wird zum Reparaturb­etrieb für die Versäumnis­se der Familie.

HENNEN Ja.

Ein Elternhaus, das sich um alles kümmert, ist aber nicht immer vorhanden.

HENNEN In der Tat hängt der Bildungser­folg sehr vom sozialen Status der Familie ab.

Was kann Bildungspo­litik aktiv tun?

HENNEN Tja. Also ich glaube, wenn es eine einfache, gute Lösung gäbe, dann wäre die auf dem Tisch. Keine Regierung will eine offensicht­lich schlechte Politik machen. Da setzt jeder alles daran, um das schlechte Image loszuwerde­n. Aber es ist eben nicht so einfach. Wenn Sie mich morgen zur Schulminis­terin machen, ich habe auch keine Lösung. MENTZENDOR­FF Meine beiden Enkel, sieben und neun Jahre, wohnen in Holland. Die gehen zur Schule, kommen nachmittag­s um 15 Uhr nach Hause. Die haben keine Schularbei­t, die haben keinen schweren Ranzen. Bei uns haben die Kleinen ja oft einen Ranzen, der ist schwerer als die Kinder. Das ist eine Katastroph­e. Die Holländer machen vieles etwas stringente­r, vieles aber eben auch besser.

Wahrschein­lich auch digitaler?

MENTZENDOR­FF Auch. Ja.

Schauen die Politiker zu wenig über den Tellerrand?

MENTZENDOR­FF Ja! Die wollen sich ein eigenes Denkmal setzen. (Reger Widerspruc­h.) MENTZENDOR­FF Doch, doch. Die entschließ­en sich für etwas und wollen das auf jeden Fall umsetzen. Mein Sohn ist Lehrer am Gymnasium. Der findet am schlimmste­n, dass dauernd etwas geändert wird. SARIYAR Das haben wir in Deutschlan­d zum Glück nicht, dass immer ein anderer Kanzler und immer eine andere Partei an der Macht ist, wir haben Beständigk­eit. MENTZENDOR­FF Ja, aber hier in NRW haben wir doch schon wieder eine andere Regierung. SARIYAR Aber die Frage ist, ob Schulpolit­ik wirklich Landespoli­tik sein sollte. Muss das sein? Ich glaube, es wäre nicht schlecht, wenn es eine Bundesange­legenheit wäre. Es macht einen Riesenunte­rschied, ob Sie in Bayern oder in Bremen auf die Schule gegangen sind. B. DEMERS Im Urlaub habe ich mich mit einer Schweizeri­n unterhalte­n. Sie sagte: „Sind Handwerker bei euch nichts mehr wert?“Anscheinen­d nicht. Um Tischler oder Schreiner zu werden, brauche ich nicht unbedingt den gymnasiale­n Abschluss. SARIYAR Auf der anderen Seite gibt es europäisch­e Länder, in denen nach elf Jahren Abitur gemacht wird, in denen das Studium kürzer ist und die mir dann als Juristen sagen, der mit 25, 26 schon recht schnell fertig war: „Also bei uns ist man mit 22, 23 fertig.“Da ist ein Vorsprung. Wieso kriegen wir das nicht hin? B. DEMERS Die Kinder dort werden früher abgeholt. Man übernimmt viele Sachen aus dem Bildungssy­stem skandinavi­scher Länder, aber das reicht nicht. Man muss das ganze Paket übernehmen. SARIYAR Man müsste das System ändern.

Einer der streitbars­ten Sätze in zwölf Jahren Kanzlersch­aft von Angela Merkel war sicherlich: „Wir schaffen das.“Pater Oliver, schaffen Sie das?

PATER OLIVER Ja klar. Wir sind eines der reichsten Länder der Welt. Natürlich schaffen wir das, das ist überhaupt keine Frage.

„Wenn Sie mich morgen zur Schulminis­terin machen, habe ich auch keine Lösung“

Weil die Rahmenbedi­ngungen so gut sind oder weil Leute wie Sie in die Bresche springen?

PATER OLIVER Ja, es läuft unrund. An vielen Stellen hakt es massiv, das nehmen Leute wahr. Aber grundsätzl­ich habe ich keine Bedenken. R. DEMERS Sind wir denn überhaupt eines der reichsten Länder? PATER OLIVER Ja oder das zweitreich­ste, ist egal. R. DEMERS Naja, man braucht sehr viel Geld für all das. Früher hieß es, dass sehr viele Flüchtling­e einen Hochschula­bschluss haben, heute heißt es, bloß ein kleiner Teil. PATER OLIVER Nicht alles glauben, was in der Zeitung steht. R. DEMERS Nein, nein. Aber es wurde gesagt, dass wir Know-how importiere­n. Wichtig ist, dass diese Leute sich auch integriere­n wollen und keine Parallelge­sellschaft aufbauen. PATER OLIVER Och, das ist immer so ein Schlagwort. R. DEMERS Nee! PATER OLIVER Was heißt das denn? R. DEMERS Zum Beispiel, wenn ein Grundschul­direktor mit vier oder fünf Dolmetsche­rn beim Elternaben­d ist, weil er sich anders nicht verständig­en kann. SARIYAR Herr Demers, wir vermischen da was. „Wir schaffen das“bezog sich auf die Flüchtling­e. Das, was Sie beschreibe­n, bezieht sich auf die Migranten, die schon hier sind. Ich denke, dass wir es schaffen könnten, aber es in den Köpfen nicht schaffen werden. Viele sind gar nicht bereit dazu. Die einen haben Angst vor Überfremdu­ng, die anderen wirtschaft­liche Gründe. Ich als Türkischst­ämmiger werde oft gleichgese­tzt mit einem Flüchtling, so dass das immer auch auf uns, die wir hier seit 45 Jahren leben, bezogen wird. R. DEMERS Worauf ist das bezogen, dieses „Wir schaffen das“? Darauf, dass diese Leute Essen bekommen, ein Dach über dem Kopf oder dass wir sie komplett integriere­n? Das hieße ja dann mit Sprache, Schule, Ausbildung­en. Also, dass diese Leute einen Nutzen bringen. Dass sie in die Sozialkass­en einzahlen und nicht nur aus der Sozialkass­e herausnehm­en. Wir wissen noch nicht, wer unsere Rente bezahlen soll. PATER OLIVER Naja, im Altersschn­itt zahlen die Ihre Rente. SARIYAR Das wollte ich auch gerade sagen. Natürlich können wir nicht sagen: Kommt und dann integriere­n wir euch ganz schnell, so einfach ist das nicht. Integratio­n bedeutet nicht, dass man einfach hier ist und arbeitet, sondern das muss viel mehr sein. Und das kostet auch was. Aber man muss das als Investitio­n für die Zukunft sehen. Dann hat die Generation nach uns vielleicht einen Gewinn, wenn man das bei Menschen so ausdrücken darf. R. DEMERS Was spricht gegen eine Green Card wie in Kanada? Die Leute bewerben sich, und wir kontrollie­rten den Zugang. PATER OLIVER Über wen sprechen wir jetzt? MENTZENDOR­FF Die kommen doch nicht her, weil sie irgendwas schaffen wollen, von sich aus, sondern die flüchten vor etwas. Und zwar vor etwas, was für Menschen grausam ist. Ich glaube, man hat verkannt, dass die Menschen aus einem anderen Kulturbere­ich kommen. Ich gebe seit Jahren Deutschunt­erricht für

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