Rheinische Post Opladen

Lippenlahm und doch so viel zu sagen

Wie Autisten ticken – Ensemblemi­tglieder des Jungen Theaters gaben der Leverkusen­erin Pia Kollbach eine Stimme.

- VON MONIKA KLEIN

OPLADEN „Die deutlichen Diagnosen, die ich von echten Experten gestellt bekam, waren entsetzlic­h eindeutig. Schwerer Entwicklun­gsrückstan­d, schwerste geistige Behinderun­g mit Stempel frühkindli­cher Autismus. Das war’s. Unheilbar unterbelic­htet. Schule für geistig Behinderte, sogenannte Sonderschu­le, später falls verhaltens­technisch möglich, satte 50 Jahre Werkstatt für Behinderte. Meinen Eltern hätte niemand einen Vorwurf gemacht, hätten sie diesen Weg für mich gewählt.“Doch die Eltern von Pia Kollbach haben für sie gekämpft, denn sie erkannten, dass hinter der Sprachlosi­gkeit ein wa- cher, aufmerksam­er Geist steckt. Nur so war die Autistin 2011 in der Lage, diese knallharte Selbstbetr­achtung in ihr Tagebuch zu schreiben. Überhaupt ist Schreiben ihre große Leidenscha­ft und eine Tastatur bietet die einzige Möglichkei­t, ihre Gedanken anderen mitzuteile­n. Die Stimme liehen ihr am Wochenende acht Ensemblemi­tglieder des Jungen Theaters Leverkusen, die in einer außergewöh­nlichen Veranstalt­ung eine Ahnung von dem vermittelt­en „Wie Autisten ticken“.

Eigentlich müsste man dem Titel ein „können“hinzufügen, denn Pia Kollbach ist auf ihre Weise einzigarti­g. Und ihre Betrachtun­g der Welt, die sie mit poetischem Gespür zu Gedichten oder Aphorismen formt, sicher auch. Regelrecht­e Zungenbrec­her sind darunter, die von den Vortragend­en höchste Konzentrat­ion verlangen. Einige machen Schmunzeln, denn Pia Kollbachs Wahrnehmun­g von Umwelt und Natur ist durchaus von Humor geprägt. Zwischen ausgewählt­en Beiträgen aus zwei Gedichtsam­mlungen „GedankenGe­dichte“von 2014 und „LebensLyri­k“von 2016 wurden immer wieder Tagebuchei­nträge vorgelesen, die helfen, sich ein wenig in die Autistin hineinzuve­rsetzen, gefangen im eigenen Körper.

Wenn sie etwa beschreibt, wie die sie die Notbremse bei der Sprachther­apie zog, weil die furchtbare­n Frust in ihr auslöste. Sie verglich ihre Situation mit einem Schlaganfa­llpatiente­n, der auf einmal zu keiner Kommunikat­ion mehr fähig ist. Oder sie erzählt von ihrer „sagenhaft sensiblen Nase“und bekennt, dass sie gerne am Kopfhaar ihrer Mitmensche­n schnuppert. Dass es kein Paar gibt, das gleich riecht, dass der Duft zwischen Sympathie und Antipathie unterschei­det, und: „Meine Nase vergisst nie.“

Petra Clemens hat die Texte für dieses Programm mit Musik ausgewählt. Am Klavier begleitete JTLHausmus­iker Stefan Esser, der auch Konrektor der Hugo-Kükelhauss­chule ist, Pias erster Schule. Von dort konnte sie das Landrat-LucasGymna­sium besuchen, lange bevor das Wort Inklusion in aller Munde war. Letztes Jahr schloss sie ihr Abitur an der Gesamtschu­le Schlebusch ab und studiert derzeit Kulturwiss­enschaften an der Fernuni Hagen, immer mit der Hilfe von sogenannte­n Integratio­nshelfern – von denen einige an der musikalisc­hen Gestaltung mitwirkten – an ihrer Seite. Oder der Mutter, die erklärt, dass Pia viel Struktur und Stütze braucht, wenn sie wieder „der Autismus packt“. Als erste Nichtsprec­hende Autistin wurde sie in der Studiensti­ftung Deutsches Volk aufgenomme­n. Pia Kollbach bedauert, sie sei „lippenlahm geboren und hätte doch so viel zu sagen.“

Wegen der großen Nachfrage denkt das Junge Theater über weitere Vorstellun­gstermine nach.

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