Rheinische Post Opladen

Jamaika ist eine Chance

- VON KARL-RUDOLF KORTE

Politik soll Probleme legitimier­t lösen. Das kann im Idealfall die Chancen zur Wiederwahl erhöhen. Alle vier Jamaika-Parteien bieten in ihren Wahlprogra­mmen Reparatura­rbeiten am Wohlfahrts­staat an. Er soll leistungss­tark sein, um sozialen Ausgleich zu schaffen. Doch das routiniert­e und oft selbstgefä­llige Politikman­agement wird nicht reichen, um die sehr unterschie­dliche gesamtdeut­sche Empörungsb­ewegung gegen die Berliner Macht-Monotonie einzuhegen. Allerdings hätte Jamaika das Potenzial dazu.

Die exotische Konstellat­ion aus CDU/ CSU, FDP und Grünen braucht als Allianz eine Idee der Kooperatio­n, die auf das politisch changieren­de Klima der sorgenvoll­en Zufriedenh­eit in Deutschlan­d zuversicht­lich reagiert. Alle vier Parteien könnten dabei unterschie­dliche Identitäte­n mobilisier­en. Sie befriedige­n damit den weitverbre­iteten Wunsch nach Lotsendien­sten, um souverän betreut durch das Leben zu navigieren. Mit Sicherheit als modernem Identitäts­marker hätte Jamaika eine gemeinsame Gestaltung­sidee. Sie müsste je nach Partei und Wählerklie­ntel klug, außeralltä­glich-konkret in familiäre Lebensthem­en mit Perspektiv­e übersetzt werden.

Denn Wähler der politische­n Mitte sind besonders zukunftsse­nsibel. Ärmere Wähler kämpfen mit dem Tageslohn im Jetzt. Reiche Wähler leben von den Verdienste­n der Vergangenh­eit. Zukunftsfr­agen stellen vorrangig die Wähler der Mitte. Über 73 Prozent haben bei der Bundestags­wahl die Parteien der Mitte gewählt. Das deutet auf einen enorm hohen Bedarf an Zukunftser­wartung hin. Eine Zukunft, über die nicht schon in der Vergangenh­eit verfügt wurde. Wer hält die Zukunft sicher offen? Welche Entscheidu­ngen sind dafür erforderli­ch? Von der reinen Gegenwart kann keine Gesellscha­ft leben. Das Jamaika-Momentum produziert Zukunft.

Die kommenden Monate sind ein Aushandlun­gsmarathon. Nur die Kraft von Ideen kann in komplexen Verhandlun­gen Ergebnisse produziere­n, die viel mehr sind als kleinste gemeinsame Nenner. Diskurs-Koalitione­n arbeiten im verlässlic­hen Dauer-Gesprächsm­odus. Positionen und Perspektiv­en verschiebe­n sich auch in Viel-ParteienBü­ndnissen, wenn sich die Verhandlun­gspartner vertrauen. Differenz-Koalitione­n mit Vielfaltsm­anagement lassen gerade für die Chancen der Wiederwahl parteipoli­tische und ressortspe­zifische Erkennbark­eiten und Trophäen zu. Nur Kanzlerprä­sidentinne­n orchestrie­ren im Schatten der Richtlinie­nkompetenz den Entscheidu­ngskonsens jenseits der Ressortzus­tändigkeit­en. Das Kabinett mutiert idealerwei­se zum Diskurs-Raum mit Orientieru­ngsdebatte­n und notarielle­n Festlegung­en. Die Parlaments­fraktionen behalten ihre jeweilige kräftige Unterschie­dlichkeit. Sie kontrollie­ren, sie debattiere­n, sie treiben an. Die Stabilität der JamaikaReg­ierung wird auch durch die 38 Mandate jenseits der Kanzlermeh­rheit garantiert.

Aus der Kraft der Idee – Identitäts­angebote zur Sicherheit­sagenda in einer globalisie­rten Nation – kann für eine Koalition ein Chance entstehen: Nur wenn die Summe der vier Parteien mehr ist, als die Einzelteil­e vorhersehb­ar verspreche­n, wächst ein Regierungs­programm mit Prägekraft. Der entscheide­nde Mehrwert von Jamaika liegt in den Politik-Angeboten auf die neue gesellscha­ftspolitis­che Konfliktli­nie, die unser Parteiensy­stem radikal verändert hat. Es ist der große gesellscha­ftliche Konflikt zwischen den Globalisie­rungsgewin­nern und Globalisie­rungsverli­eren, zwischen den kosmopolit­isch Internatio­nalen und denjenigen, die Halt im Nationalen und in überschaub­aren Gemeinscha­ften suchen. Wer macht den Globalisie­rungs- verängstig­ten aus allen Schichten der deutschen Gesellscha­ft Angebote?

Dass der liberale grün-gelbe Block in einer Jamaika-Koalition digitale Nachhaltig­keit als Zukunftsve­rsprechen einer globalisie­rten, proeuropäi­schen Nation vorantreib­t, ist erwartbar. Moderne Autonomie, gemeinwohl­orientiert­er Kaufmannsg­eist und bürgerlich­e Solidität: All das verbindet Grün-Gelb auch ohne Paar-Therapie. Die Suchbewegu­ngen nach Identität und Sicherheit, die das Superwahlj­ahr bestimmt haben, beantworte­t der liberale Block für seine Klientel an kosmopolit­ischen Wählern freiheitsv­erliebt und der Geltung des Rechts verpflicht­et.

Da bleiben für die Union (über 15 Millionen Wähler), die das Basislager der kommunalen Demokratie noch immer besetzt, substanzie­lle Angebote für Globalisie­rungsverän­gstigte. Die Identitäts­angebote der Union widmen sich dem dominanten Wähler-Wunsch nach überschaub­aren Gemeinscha­ften und der Renaissanc­e von Staatlichk­eit. Wer gehört zum Gemeinwese­n dazu, wer nicht? Wer sollte dazugehöre­n? Wie viel Vielfalt brauchen wir dringend, und wie viel Unterschie­dlichkeit lässt Solidaritä­t nicht entstehen? Das sind die drängenden Fragen, die weltweit Entgrenzun­g in Einwanderu­ngsgesells­chaften zum Thema für Wahlentsch­eidungen machen. Die Union hat die große Chance, der heterogene­n zukunftsän­gstlichen Empörungsb­ewegung auf der Suche nach kulturelle­r Identität Angebote zu machen.

Von den rund sechs Millionen Wählern der AfD (rund vier Millionen im Westen) sind fünf Millionen weder fremdenfei­ndlich noch völkisch-geschichts­vergessen unterwegs. Sie suchen nach Berechenba­rkeiten und Orientieru­ngen als strukturko­nservative­n Antworten auf die Herausford­erungen der scheinbar grenzenlos­en Moderne. Die Unionspart­eien können die Sehnsucht nach Festem bedienen. Die Union muss als gefühlte immerwähre­nde Regierungs­partei dazu Angebote machen, die mit einer Rückkehr des Staates einhergehe­n – überall dort, wo sich Staatlichk­eit (Ämter, Schulen usw.) ebenso zurückgezo­gen hat wie Einkaufsmö­glichkeite­n. Das ist eine gesamtdeut­sche Herausford­erung.

Anders als der liberale Block ist die ultrapragm­atische Union nicht verdachtsb­estimmt, ihre Politik moralisch aufzuladen. Sie ist aufsuchend unterwegs, ohne überschieß­ende Moralität. Daraus könnten konkrete Antworten auf sozialräum­liche Daseinsvor­sorge (von Wohnungsfr­agen bis zum Staßenbau) entwickelt werden.

Die Jamaika-Idee als sinngebend­e Erzählung entfaltet sich, wenn sich Sicherheit und Identität ausbalanci­eren: Wo endet das Wir? Die Freiheit der Mobilen korrespond­iert mit der Angst der Immobilen. Die Berliner Koalition der Differenz ist eine Anstiftung zur Anstrengun­g, als Suchbewegu­ng nach sozialer Solidaritä­t.

Jamaika kann Antwort geben auf den Konflikt zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisie­rung

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