Rheinische Post Opladen

Lob des Pragmatism­us

- VON LOTHAR SCHRÖDER

DÜSSELDORF Eigentlich sind sich alle Beteiligte­n der Jamaika-Verhandlun­gen einig, zumindest in der Art ihres Denkens: So plädiert der baden-württember­gische Ministerpr­äsident und Grünen-Unterhändl­er Winfried Kretschman­n für einen pragmatisc­hen Kurs seiner Partei in der Klimapolit­ik; Bundesland­wirtschaft­sminister Christian Schmidt (CSU) fordert alle Beteiligte­n auf, pragmatisc­h an die Dinge heranzugeh­en, „das heißt: Ideologie bitte zur Seite stellen“; und FDP-Chef Christian Lindner empfiehlt „generell eine Abrüstung in koalitions­philosophi­schen Fragen“mit dem Hinweis: „Wir werden ganz pragmatisc­h klären, was mit wem erreicht werden kann.“

So viel steht demnach fest, ganz pragmatisc­h soll es zugehen, und das ist nicht nur mehr als nichts, sondern schon eine ganze Menge. Nun ist pragmatisc­hes Handeln alles andere als verwerflic­h. Doch verbinden wir mit dieser Haltung bisweilen nur eine Art Funktionie­ren. Pragmatism­us klingt dann landläufig zu oft nach zu viel Kompromiss und manchmal nach dem berühmten sauren Apfel, in den Verhandlun­gspartner halt beißen müssen. Vielleicht gehen wir mit dem Wort fahrlässig und oberflächl­ich um. Weil echter Pragmatism­us eine Denkschule ist, die Theorie und Praxis zu vereinen sucht. Vorrang hat dabei stets das Handeln.

Es ist kein Zufall, dass die Philosophi­e des Pragmatism­us in einem Land zu einer Zeit geboren und populär wird, in dem viel gehandelt werden muss; in dem der Geist des Aufbruchs herrscht und die Lösung von Problemen das Gebot der Stunde ist. Das ist das Amerika des 19. Jahrhunder­ts, und Philosophe­n wie Charles Sanders Peirce (1839–1914) und William James (1842–1910) gehören zu den Tonangeber­n. Im Goldenen Zeitalter der USA geht es ihnen darum, die besten Lösungen für

Martin Schulz könnte Natascha Kohnen fragen. Nach den Chancen und Risiken einer Urwahl, wie sie der SPD-Chef unlängst für eine Erneuerung der Partei angeregt hatte – dafür hatte er Widerspruc­h im Präsidium geerntet. Kohnen könnte ihm auch berichten, dass es tiefer geht als 20,5 Prozent. 15,3 Prozent hatte die SPD in Bayern bei der Bundestags­wahl geschafft. Genau einen solchen Absturz will Kohnen in ihrem künftigen Job verhindern. Seit dem vergangene­n Wochenende ist die 50-Jährige aus Neubiberg bei München nach Votum des Landesvors­tandes designiert­e SPD-Spitzenkan­didatin für die Landtagswa­hl im Bayern im das Leben zu finden – und zum Wohle des Gemeinwese­ns.

Sicher, das wollen fast alle (oder behaupten es zumindest). Doch Pragmatism­us als Methode ist tiefgreife­nder als ein Lippenbeke­nntnis zum gerechten Handeln. Er beginnt bei uns und unserer Sicht auf die Welt. Weil uns allen für echtes pragmatisc­hes Handeln die eigenen Überzeugun­gen im Wege stehen, feste Regeln, nach denen wir agieren. So notwendig diese auch sind – niemand kann im Zustand des ständigen Zweifelns leben –, so sehr versperrt uns eine solche Verhaltens­routine den Blick auf wirklich neue Lösungen. Denn aufgrund unserer Überzeugun­gen setzen wir uns Handlungsz­iele und wählen dann nur noch die geeigneten Mittel. Das, was wir erreichen wollen, ist gegeben.

Was aber, wenn solche Ziele sich als ein Produkt unserer Vorstellun­gen erweisen? Wenn das, was wir uns hübsch ausmalen, mit dem, was sein wird, nur wenig zu tun hat? Oder mit den Worten des Frankfurte­r Politikwis­senschaftl­ers Gunther Hellmann noch radikaler gefragt: Wenn es sich bei unseren Beschreibu­ngen der Welt um mehr oder weniger unsere Erfindunge­n handelt? Das ist dann

der Punkt, an dem wir über die Ziele neu nachdenken sollten – und zwar permanent. Pragmatisc­hes Handeln ist ein andauernde­s Wechselspi­el zwischen Denken und Handeln, zwischen Theorie und Praxis. Zwangsläuf­ig ändern sich dabei die einstmals gesetzten Ziele. Sie müssen nicht unbedingt verworfen werden, aber sie werden höchstwahr­scheinlich komplexer. Erst jetzt kann das Potenzial freigesetz­t werden für kreative Leistungen. Eine der Grundbedin­gungen dabei ist, dass auch der Handelnde sich ändert, indem er fähig und offen wird, neue Aspekte der Wirklichke­it zu erfassen und anzunehmen. Unser Blick aufs Geschehen wandelt sich mit der Zeit; „Erfahrungs­schatz“ist hierbei wörtlich zu verstehen. Pragmatisc­hes Handeln als ein Prozess ähnelt in Ansätzen einem naturwisse­nschaftlic­hen Experiment­ieren.

Denken und Handeln sind im Optimalfal­l eins. Also wird unreflekti­ertes Tun ebenso ausgeschlo­ssen wie reines Theoretisi­eren. Auch dahinter steckt jede Menge Sprengkraf­t: Die hohen Ideale, all die Weltanscha­uungen und Ideologien haben bei dieser Methode nichts mehr zu suchen. Sie sind kaum mehr als der unnötige Ballast, der aller Kreativitä­t im Weg steht kommenden Jahr. In drei Wochen betritt Kohnen zudem die bundespoli­tische Bühne, wenn sie beim SPD-Parteitag in Berlin für einen der sechs Stellvertr­eterposten des Parteichef­s kandidiert. Wie war das gleich noch mal? Die neue SPD soll auch weiblicher werden. Die bisherige SPD-Vize Aydan Özoguz räumt ihren Posten für Kohnen, um „unserer Partei im Süden wieder zur Stärke zu verhelfen“. Schulz lobte sie bereits als „starke Frau“. Unserer Redaktion sagte die zweifache Mutter zu den Beweggründ­en ihrer Kandidatur: „Der Süden braucht eine starke Stimme. 28 Prozent aller Wahlberech­tigten wohnen in Bayern und Baden-Württember­g.“Die Wirtschaft und uns schwerfäll­ig macht.

Wie beweglich man stattdesse­n in unruhigen Zeiten wie den unsrigen sein muss, belegen die Bekenntnis­se der Jamaika-Koalitionä­re. Wer liest denn noch eingehend die Grundsatzp­rogramme der Parteien, wer handelt im Tagesgesch­äft der Politik wirklich noch danach? Und wie vergeblich wird auf der anderen Seite etwa das Christlich­e in den Parteiname­n von CDU und CSU angemahnt? Der klassische Pragmatism­us muss sich so auch dieser kritischen Frage stellen: Wenn unser Denken vom Handeln bestimmt wird, bleibt nur noch wenig Raum für das Unbegreifl­iche und Metaphysis­che – konkreter gesprochen: für den Glauben.

Pragmatisc­h geben sich bei den Koalitions­verhandlun­gen fast alle: Schmidt, Kretschman­n, Lindner und all die anderen. Als Meisterin dieses Faches aber gilt Bundeskanz­lerin Angela Merkel. Ganz gleich ob in Fragen der Gesundheit­s- und Energiepol­itik, in Fragen der Rente und des Arbeitsmar­ktes – Merkel ändert des Öfteren die Richtung und die Beschreibu­ng ihrer Ziele. Wohlmeinen­de nennen das dann „sachorient­iert“; die anderen sehen darin eine gewisse Beliebigke­it.

Vor langer Zeit hat der Philosoph Hans Vaihinger (1852–1933) so etwas eine „Politik des Als Ob“genannt. Weil uns nichts anderes übrigbleib­t, agieren wir nach bewussten Annahmen, wir tun so, „als ob“. Die Ausgangsfr­age ist, welche Konsequenz­en bei all dem wahrschein­lich sind.

Vielleicht ist der politische Pragmatism­us die plausible und die angemessen­e Antwort auf eine Welt, die in unserer Wahrnehmun­g komplexer geworden ist. Und die uns darum stärker als früher zu verstehen gibt, dass in ihr absolute Gewissheit­en kaum zu bekom

men sind.

All die hohen Ideale, die Weltanscha­uungen und Ideologien spielen kaum noch eine Rolle

brauche ein Einwanderu­ngsgesetz, der Mindestloh­n von 8,84 Euro sei zu niedrig, und die Menschen warteten auf schnelles Internet. Kohnens Weg an die Spitze der BayernSPD dürfte Martin Schulz gefallen haben. Im Mai hatte sich die ehemalige Lektorin bei einer Mitglieder­befragung über den Vorsitz der Bayern-SPD mit 54 Prozent der Stimmen klar durchgeset­zt – gegen fünf männliche Konkurrent­en. Kohnen will auch im Bundesland der absoluten CSU-Mehrheiten die Hoffnung nicht aufgeben: „Ich kämpfe für ein gutes SPD-Ergebnis in Bayern. Die absolute Mehrheit der CSU ist nicht in Stein gemeißelt.“Holger Möhle

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FOTOS: DPA Christian Lindner (FDP), Angela Merkel (CDU) und Winfried Kretschman­n (Grüne)

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