Lob des Pragmatismus
DÜSSELDORF Eigentlich sind sich alle Beteiligten der Jamaika-Verhandlungen einig, zumindest in der Art ihres Denkens: So plädiert der baden-württembergische Ministerpräsident und Grünen-Unterhändler Winfried Kretschmann für einen pragmatischen Kurs seiner Partei in der Klimapolitik; Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) fordert alle Beteiligten auf, pragmatisch an die Dinge heranzugehen, „das heißt: Ideologie bitte zur Seite stellen“; und FDP-Chef Christian Lindner empfiehlt „generell eine Abrüstung in koalitionsphilosophischen Fragen“mit dem Hinweis: „Wir werden ganz pragmatisch klären, was mit wem erreicht werden kann.“
So viel steht demnach fest, ganz pragmatisch soll es zugehen, und das ist nicht nur mehr als nichts, sondern schon eine ganze Menge. Nun ist pragmatisches Handeln alles andere als verwerflich. Doch verbinden wir mit dieser Haltung bisweilen nur eine Art Funktionieren. Pragmatismus klingt dann landläufig zu oft nach zu viel Kompromiss und manchmal nach dem berühmten sauren Apfel, in den Verhandlungspartner halt beißen müssen. Vielleicht gehen wir mit dem Wort fahrlässig und oberflächlich um. Weil echter Pragmatismus eine Denkschule ist, die Theorie und Praxis zu vereinen sucht. Vorrang hat dabei stets das Handeln.
Es ist kein Zufall, dass die Philosophie des Pragmatismus in einem Land zu einer Zeit geboren und populär wird, in dem viel gehandelt werden muss; in dem der Geist des Aufbruchs herrscht und die Lösung von Problemen das Gebot der Stunde ist. Das ist das Amerika des 19. Jahrhunderts, und Philosophen wie Charles Sanders Peirce (1839–1914) und William James (1842–1910) gehören zu den Tonangebern. Im Goldenen Zeitalter der USA geht es ihnen darum, die besten Lösungen für
Martin Schulz könnte Natascha Kohnen fragen. Nach den Chancen und Risiken einer Urwahl, wie sie der SPD-Chef unlängst für eine Erneuerung der Partei angeregt hatte – dafür hatte er Widerspruch im Präsidium geerntet. Kohnen könnte ihm auch berichten, dass es tiefer geht als 20,5 Prozent. 15,3 Prozent hatte die SPD in Bayern bei der Bundestagswahl geschafft. Genau einen solchen Absturz will Kohnen in ihrem künftigen Job verhindern. Seit dem vergangenen Wochenende ist die 50-Jährige aus Neubiberg bei München nach Votum des Landesvorstandes designierte SPD-Spitzenkandidatin für die Landtagswahl im Bayern im das Leben zu finden – und zum Wohle des Gemeinwesens.
Sicher, das wollen fast alle (oder behaupten es zumindest). Doch Pragmatismus als Methode ist tiefgreifender als ein Lippenbekenntnis zum gerechten Handeln. Er beginnt bei uns und unserer Sicht auf die Welt. Weil uns allen für echtes pragmatisches Handeln die eigenen Überzeugungen im Wege stehen, feste Regeln, nach denen wir agieren. So notwendig diese auch sind – niemand kann im Zustand des ständigen Zweifelns leben –, so sehr versperrt uns eine solche Verhaltensroutine den Blick auf wirklich neue Lösungen. Denn aufgrund unserer Überzeugungen setzen wir uns Handlungsziele und wählen dann nur noch die geeigneten Mittel. Das, was wir erreichen wollen, ist gegeben.
Was aber, wenn solche Ziele sich als ein Produkt unserer Vorstellungen erweisen? Wenn das, was wir uns hübsch ausmalen, mit dem, was sein wird, nur wenig zu tun hat? Oder mit den Worten des Frankfurter Politikwissenschaftlers Gunther Hellmann noch radikaler gefragt: Wenn es sich bei unseren Beschreibungen der Welt um mehr oder weniger unsere Erfindungen handelt? Das ist dann
der Punkt, an dem wir über die Ziele neu nachdenken sollten – und zwar permanent. Pragmatisches Handeln ist ein andauerndes Wechselspiel zwischen Denken und Handeln, zwischen Theorie und Praxis. Zwangsläufig ändern sich dabei die einstmals gesetzten Ziele. Sie müssen nicht unbedingt verworfen werden, aber sie werden höchstwahrscheinlich komplexer. Erst jetzt kann das Potenzial freigesetzt werden für kreative Leistungen. Eine der Grundbedingungen dabei ist, dass auch der Handelnde sich ändert, indem er fähig und offen wird, neue Aspekte der Wirklichkeit zu erfassen und anzunehmen. Unser Blick aufs Geschehen wandelt sich mit der Zeit; „Erfahrungsschatz“ist hierbei wörtlich zu verstehen. Pragmatisches Handeln als ein Prozess ähnelt in Ansätzen einem naturwissenschaftlichen Experimentieren.
Denken und Handeln sind im Optimalfall eins. Also wird unreflektiertes Tun ebenso ausgeschlossen wie reines Theoretisieren. Auch dahinter steckt jede Menge Sprengkraft: Die hohen Ideale, all die Weltanschauungen und Ideologien haben bei dieser Methode nichts mehr zu suchen. Sie sind kaum mehr als der unnötige Ballast, der aller Kreativität im Weg steht kommenden Jahr. In drei Wochen betritt Kohnen zudem die bundespolitische Bühne, wenn sie beim SPD-Parteitag in Berlin für einen der sechs Stellvertreterposten des Parteichefs kandidiert. Wie war das gleich noch mal? Die neue SPD soll auch weiblicher werden. Die bisherige SPD-Vize Aydan Özoguz räumt ihren Posten für Kohnen, um „unserer Partei im Süden wieder zur Stärke zu verhelfen“. Schulz lobte sie bereits als „starke Frau“. Unserer Redaktion sagte die zweifache Mutter zu den Beweggründen ihrer Kandidatur: „Der Süden braucht eine starke Stimme. 28 Prozent aller Wahlberechtigten wohnen in Bayern und Baden-Württemberg.“Die Wirtschaft und uns schwerfällig macht.
Wie beweglich man stattdessen in unruhigen Zeiten wie den unsrigen sein muss, belegen die Bekenntnisse der Jamaika-Koalitionäre. Wer liest denn noch eingehend die Grundsatzprogramme der Parteien, wer handelt im Tagesgeschäft der Politik wirklich noch danach? Und wie vergeblich wird auf der anderen Seite etwa das Christliche in den Parteinamen von CDU und CSU angemahnt? Der klassische Pragmatismus muss sich so auch dieser kritischen Frage stellen: Wenn unser Denken vom Handeln bestimmt wird, bleibt nur noch wenig Raum für das Unbegreifliche und Metaphysische – konkreter gesprochen: für den Glauben.
Pragmatisch geben sich bei den Koalitionsverhandlungen fast alle: Schmidt, Kretschmann, Lindner und all die anderen. Als Meisterin dieses Faches aber gilt Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ganz gleich ob in Fragen der Gesundheits- und Energiepolitik, in Fragen der Rente und des Arbeitsmarktes – Merkel ändert des Öfteren die Richtung und die Beschreibung ihrer Ziele. Wohlmeinende nennen das dann „sachorientiert“; die anderen sehen darin eine gewisse Beliebigkeit.
Vor langer Zeit hat der Philosoph Hans Vaihinger (1852–1933) so etwas eine „Politik des Als Ob“genannt. Weil uns nichts anderes übrigbleibt, agieren wir nach bewussten Annahmen, wir tun so, „als ob“. Die Ausgangsfrage ist, welche Konsequenzen bei all dem wahrscheinlich sind.
Vielleicht ist der politische Pragmatismus die plausible und die angemessene Antwort auf eine Welt, die in unserer Wahrnehmung komplexer geworden ist. Und die uns darum stärker als früher zu verstehen gibt, dass in ihr absolute Gewissheiten kaum zu bekom
men sind.
All die hohen Ideale, die Weltanschauungen und Ideologien spielen kaum noch eine Rolle
brauche ein Einwanderungsgesetz, der Mindestlohn von 8,84 Euro sei zu niedrig, und die Menschen warteten auf schnelles Internet. Kohnens Weg an die Spitze der BayernSPD dürfte Martin Schulz gefallen haben. Im Mai hatte sich die ehemalige Lektorin bei einer Mitgliederbefragung über den Vorsitz der Bayern-SPD mit 54 Prozent der Stimmen klar durchgesetzt – gegen fünf männliche Konkurrenten. Kohnen will auch im Bundesland der absoluten CSU-Mehrheiten die Hoffnung nicht aufgeben: „Ich kämpfe für ein gutes SPD-Ergebnis in Bayern. Die absolute Mehrheit der CSU ist nicht in Stein gemeißelt.“Holger Möhle