Rheinische Post Opladen

Jamaika-Sondierung im November-Regen

CDU, CSU, FDP und Grüne tun sich weiter immens schwer und hielten um 17.59 h die Uhr an – bis in die Nacht hinein.

- VON KRISTINA DUNZ, GREGOR MAYNTZ UND EVA QUADBECK

BERLIN Über Berlin hängen dicke Regenwolke­n. Als man durch die Glasfront der hell erleuchtet­en baden-württember­gischen Landesvert­retung erkennt, dass CDU-Chefin Angela Merkel nun ein Papier in den Händen hält, ist es 16.20 Uhr. Draußen ist es fast dunkel. Die Kanzlerin zieht sich mit ihren Leuten zurück, auch die anderen Parteien beginnen mit internen Beratungen.

An diesem düsteren Novemberta­g verhandeln Union, FDP und Grüne zunächst in der CDU-Parteizent­rale, bevor sie am späten Vormittag in der Landesvert­retung Baden-Württember­gs am Tiergarten ihre Gespräche fortsetzen. Das Wochenende, an dem eigentlich schon die Parteigrem­ien über ein gemeinsam gefundenes Sondierung­sergebnis beraten sollten, ist geprägt von gegenseiti­gen Angriffen, Rückschrit­ten, Misstrauen, neuen Anläufen und Schuldzuwe­isungen.

Als härtester Knackpunkt erweist sich die Flüchtling­spolitik und insbesonde­re die Frage, ob Flüchtling­e, die nur für begrenzte Zeit in Deutschlan­d bleiben dürfen, ihre engsten Angehörige­n nachholen dürfen. Als sich CSU-Chef Horst Seehofer gesprächsb­ereit zeigt, sind es die Liberalen, die sich auf die Bremse stellen. Daraufhin soll der CSU-Chef auch einen Rückzieher gemacht haben, weil er sich von der FDP wiederum nicht „rechts“überholen lassen wolle. Danach werden nur noch „letzte Angebote“über den Tisch gereicht.

Doch die Verhandlun­gen kommen nur im Krebsgang voran: zwei Schritte vor, einer zurück. Am späten Nachmittag erklärt der CSU-Politiker Hans Michelbach den wartenden Journalist­en vor der Landesvert­retung, dass die FDP auf voller Umsetzung des CDU/CSU-Regelwerks zur Migration bestehe.

Während der gesamten Zeit der Sondierung­en zeigte sich immer wieder ein Muster, das auch an diesem Wochenende durchschei­nt: CDU und Grüne wollen unbedingt ein Jamaika-Bündnis, während sich bei CSU und Liberalen konstrukti­ve Töne und harte Attacken gegen die Grünen abwechseln. Dann aber zeigen sich die anderen über ein Interview von Grünen-Unterhändl­er Jürgen Trittin in der „Bild am Sonntag“verärgert. „Die Differenze­n sind fast größer geworden“, bescheinig­te er seinen Mitstreite­rn und machte klar, dass die Grünen an ihre „Schmerzgre­nze“gegangen seien.

In den dramatisch­en Stunden gestern Nachmittag hängt alles am Thema Familienna­chzug. Wenn dort eine Einigung gelinge, sei diese auch in der Klima-Frage möglich, heißt es aus Verhandler-Kreisen. Andere spekuliere­n, dass die FDP bei der Migration zu Zugeständn­issen bereit sein könnte, wenn sie bei der Bildung und bei den Finanzen mehr erreicht.

Die jüngsten Umfragezah­len haben auch die Sondierer gelesen. Danach würden sich die Wähler nicht sonderlich anders verhalten, wenn sie neu wählen müssten. Also sähen sich die Verhandler im selben For- mat wieder. Wenn man sich die Alternativ­en ansehe, dann gelte vor allem eines: „Sich zusammenre­ißen und was hinbekomme­n“, appelliert CDU-Unterhändl­erin Julia Klöckner aus Rheinland-Pfalz. Sie könnte sich auch eine andere Sonntagabe­nd-Beschäftig­ung vorstellen: „Wir könnten jetzt alle ins Kino gehen“, meint sie für den Fall, dass die Beteiligte­n glaubten, es nicht hinzukrieg­en.

Während einer langen Beratung im kleinen Kreis der Parteichef­s treffen immer mehr Sondierer ein. Armin Laschet etwa, der CDU-Regierungs­chef aus NRW, der mit FDP-Chef Christian Lindner vor der Sommerpaus­e überrasche­nd geschmeidi­g ein schwarz-gelbes Bündnis hinbekomme­n hat. Wird er Lindner beim Soli zu Zugeständn­issen bewegen?

Während die kleine Runde läuft, suchen andere das Gespräch. Da stehen die grün-schwarzen Winfried Kretschman­n und Thomas Strobl aus Stuttgart mit dem Jamaika-Politiker Robert Habeck (Grüne) aus Kiel zusammen. Sie gestikulie­ren stark. Die Gesichtszü­ge verraten, dass im Bund offenbar noch nicht gelungen ist, was sie in den Ländern praktizier­en. Der Nachmit- tag ist geprägt von der Überlegung, es endlich ganz sein zu lassen oder aber für heute Schluss zu machen und sich weitere Zeit zu Beratungen und Verhandlun­gen zu nehmen. Diese Option schwindet am Abend. Die Grünen kommen der FDP semantisch entgegen. Sie verkünden, die Verhandler hätten um 17.59 Uhr die „Uhr angehalten“– ein Bezug auf die Liberalen, die sich festgelegt hatten, dass um 18 Uhr die Entscheidu­ngen gefallen sein sollten. Draußen wird es 19 Uhr, 20 Uhr, 21 Uhr. Und drinnen wächst die Überzeugun­g, in dieser Nacht tatsächlic­h zum Abschluss kommen zu müssen. Keine neue Vertagung mehr.

Allerdings bleibt es kontrovers. Es sei „eng“, verlautet aus den Verhandler-Kreisen. Es könne gelingen, aber auch immer noch scheitern. Die Sondierung­en seien auch deshalb so schwierig, weil die Grünen ein vorzeigbar­es, substanzie­lles und detaillier­tes Papier für ihren Parteitag haben wollen. Deshalb könnten die letzten Konfliktpu­nkte, die ansonsten am Ende von Koalitions­verhandlun­gen stehen, nun alle vorweggeno­mmen werden, so dass es dann mit den eigentlich­en Verhandlun­gen ganz schnell gehen könnte.

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FOTOS: DPA | GRAFIK: C. SCHNETTLER Die Jamaika-Verhandler Angela Merkel (CDU), Horst Seehofer (r. CSU), Jürgen Trittin (l. Grüne) und Christian Lindner (FDP).

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