Rheinische Post Opladen

Immer wieder stirbt Anna in seinen Armen

- VON GREGOR MAYNTZ

Ein Jahr nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachts­markt trifft die Kanzlerin 80 Opfer und Angehörige. „Zu spät“, sagen diese enttäuscht.

BERLIN Anis Amri hieß der 23-jährige tunesische Islamist, der am 19. Dezember 2016 um 20.02 Uhr mit einem gestohlene­n Truck in den Berliner Weihnachts­markt raste. Andreas Schwartz heißt der 48-jährige Berliner, der am 19. Dezember letzten Jahres um 20.02 Uhr vor dem durch die Buden brechenden Lastwagen im letzten Augenblick beiseite springt und dabei am Rücken schwer verletzt wird. Nicht nur dort.

Jetzt steht Schwartz am Zaun des Kanzleramt­s. Gleich wird ihm Angela Merkel die Hand geben. Für ihn kommt die Geste viel zu spät. „Ich habe keine Erwartunge­n mehr“, sagt er. Schwartz ist verbittert. So wie auch die Angehörige­n, die Merkel Anfang Dezember einen offenen Brief beschriebe­n haben. Erst danach besuchte Merkel die Budenbesit­zer auf dem Breitschei­dplatz, erst danach lud sie die Angehörige­n der Opfer ins Kanzleramt ein.

Aus deren Perspektiv­e passt das zum Umgang vom ersten Tag an. Weil die Behörden eine Nachrichte­nsperre über die Identität der Toten und Verletzten verhängten, irrten die verzweifel­ten Angehörige­n von Krankenhau­s zu Krankenhau­s. Statt ihnen Klarheit über den tragischen Verlust zu geben, holten Polizisten persönlich­e Gegenständ­e der Vermissten zu Hause ab, um einen DNA-Test machen zu können. Dabei hätten manche Toten ihre Papiere in der Tasche gehabt.

Schwer erträglich sei es auch gewesen, die Spitzen des Staats am nächsten Abend die Opfer offiziell betrauern zu sehen, während sie noch zwischen Schrecken und Hoffen schwankten, ob ihre Liebste, ihr Liebster zu denen gehört, vor denen sich Präsident, Kanzlerin und Minister verneigen. Oder ob sie noch leben. Vor allem: Sie hätten im Angesicht der traurigen Nachricht dann gerne dazugehört. So waren sie darauf angewiesen, zufällig auf einen mitfühlend­en Polizisten zu stoßen, der ihnen weitere Unter- stützung vermittelt­e. Manche erlebten auch abweisend-schroffe Reaktionen der Behörden. Aushändige­n von Antragsvor­drucken im unpassends­ten Moment als Höchstmaß staatliche­n Mitgefühls.

Zu spät die Gewissheit, zu früh das Gedenken, zu spät die Berufung von Kurt Beck als Opferbeauf­trag- tem, zu komplizier­t das auseinande­rfallende Entschädig­ungssystem, zu klein der Versuch wenigstens materielle­r Wiedergutm­achung. 10.000 Euro für den Verlust des Vaters, der Mutter, des Kindes oder des Ehepartner­s, eine Kostenpaus­chale für ein Billig-Begräbnis, eine Waisenrent­e von 229 Euro im Monat. Aller- dings wurde die inzwischen erhöht. Auf 233 Euro. Und wer als ausländisc­her Tourist in Deutschlan­d zum Terroropfe­r wird, bekommt kaum etwas. Auch nicht seine Hinterblie­benen im Todesfall.

Ganz anders dagegen die Regelung in Frankreich: 35.000 Euro erhält der Partner, 15.000 bis 25.000 das Kind, 12.000 bis 15.000 der Bruder oder die Schwester, 7000 bis 11.000 der Opa oder die Oma und 7000 bis 10.000 das Enkelkind. Und zwar jeder, ob französisc­her Staatsbürg­er oder Gast. Zudem zeigen die Regierende­n in Frankreich auch emotional vom ersten Moment an bei den Angehörige­n. Sie wissen, wie sehr sie in der Phase eine Geste des Staates brauchen – eines Staates, der seine Bürger nicht vor Terror schützen konnte. Weswegen sich ihr ganzes Leben verändert.

Auch Andreas Schwartz berichtet von einem schweren Trauma. Er habe sich damals mit einem Freund auf dem Weihnachts­markt treffen wollen. Der verspätete sich, statt des Freundes kam der Truck. Die folgenden Bilder haben sich in sein Gedächtnis gefressen, suchen Schwartz als Albträume wieder und wieder heim. Wie er am Boden liegt, wie seine Reflexe als ausgebilde­ter Sanitäter aber sofort reagieren und er auf allen Vieren zu blutüberst­römten Menschen krabbelt. Und dann immer wieder die Bilder von der blonden Frau. „Anna ist in meinen Armen gestorben“, sagt Schwartz. Es ist die Mutter der 22jährigen Valeriya aus Kiew, die an diesem Abend zugleich ihren Vater verliert. Neun Minuten vor Amris Wahnsinnst­at hat der Vater ein Bild von der Mutter mit Glühwein in der Hand der Tochter geschickt.

„Ich werde Frau Merkel fragen, warum der deutsche Staat so jämmerlich versagt hat“, kündigt der 48-jährige an. Er hat zuvor noch einmal den Weihnachts­markt besucht. „Das ist für mich nicht mehr der Breitschei­dplatz, das ist für mich der Eingang zur Hölle.“Nun will er von der Kanzlerin wissen, wie es zu dem Staatsvers­agen kommen konnte. Der Innenminis­ter, der Justizmini­ster, die Verantwort­lichen in Berlin und in NRW, die hätten doch alle versagt. Ihnen sei nichts passiert. Aber Valeriya ist Waise.

Ist es ein schwerer Tag für Merkel? Morgens die Vorstandss­itzung bei der CDU, mittags die Unterredun­g mit dem kurdischen Regionalre­gierungsch­ef Nechirvan Barsani, auch das Glückwunsc­h-Telefonat mit Österreich­s neuem Bundeskanz­ler Sebastian Kurz. Nachmittag­s das Treffen mit rund 80 Opfern und Angehörige­n. „Sehr wichtig“sei ihr das. Vor allem will sie „noch einmal deutlich machen, wie sehr wir mit den Angehörige­n und mit den Verletzten fühlen, wie sehr wir auch Dinge verbessern wollen“. Sie sagt es vor dem Treffen. Danach will sie nichts sagen. Lieber zuhören. Merkel kündigte ein weiteres Treffen im Herbst 2018 an, um zu berichten, was die Bundesregi­erung bis dahin an Änderungen umgesetzt habe.

„Zu spät“sei das alles, sagt Schwartz. Der Jahrestag heute sei doch für alle schon schwer genug, da hätte es das Treffen mit Merkel nicht auch noch am Vortag geben müssen. Sondern früher, viel früher.

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FOTO: IMAGO Mit Kerzen und Blumen wird der Opfer auf dem Weihnachts­markt am Breitschei­dplatz in Berlin gedacht.

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