Rheinische Post Opladen

Der unfolgsame Zeitgenoss­e

Heinrich Böll – vor 100 Jahren geboren – war der erste deutsche Literaturn­obelpreist­räger nach dem Krieg; und ein großer Moralist.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

KÖLN/ BERLIN Natürlich fragten sich viele an diesem Abend, ob die Feier wohl angemessen und dem Gefeierten auch genehm sein könnte. So, als läge dieser mit schwerer Erkältung im Bett und würde seine Gedenkstun­de im Schloss Bellevue daheim am Bildschirm verfolgen können. Dabei ist Heinrich Böll vor mehr als drei Jahrzehnte­n gestorben, und es war der bevorstehe­nde 100. Geburtstag des Kölner Schriftste­llers, den Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier jetzt an seinem Amtssitz würdigen wollte.

Doch selbst die Präsenz so vieler Autoren und einstigen Wegbegleit­er – wie etwa Wolfgang Niedecken, wie Mario Adorf und Angela Winkler, die mit ihrer Titelrolle in „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“den internatio­nalen Durchbruch schaffte – beantworte­te die Frage nach dem richtigen Gedenken nicht. Die fehlende Antwort war ein Glücksfall. Sie ist das Dokument einer Existenz, zerrissen zwischen der Distanz zum Vaterland und der Liebe zur Mutterspra­che sowie der Tiefgläubi­gkeit und der Fundamenta­lkritik an der Kirche. Steinmeier nannte das an diesem winterlich­en Abend im Schloss so: Heinrich Böll habe sich die „Empfindsam­keit für das Absurde bewahrt“.

Der Abend in Schloss Bellevue ist Teil dessen, wie wir Böll gedenken. Anders gesagt: was er uns heute noch bedeutet. Sicher, seine Werke haben Millionena­uflagen erzielt, seine Kurzgeschi­chten und Romane standen auf den Lehrplänen von Schulen und Universitä­ten. Aus der Erregungsl­ektüre (etliche seiner Bücher entfachten bundesrepu­blikanisch­e Debatten) wurde Pflichtlek­türe, deren Glanz wie bei jedem verordnete­n Kunstgenus­s irgendwann ermattet. Mit der 1996 gegründete­n Böll-Stiftung schien der Autor linksalter­nativ etikettier­t zu werden; und die verdienstv­olle 27-bändige Werkausgab­e bugsierte ihn im Bücherrega­l in die Abteilung der Klassiker. Heinrich Böll war damit abgelegt. Vor allem: entschärft. Ein intellektu­eller Störenfrie­d weniger.

Bis zu seinem 100. Geburtstag, der am morgigen Donnerstag gefeiert wird. Denn so viel Böll war selten: an Lesungen und Vorlesunge­n, Fernseh- und Radio-Sendungen, an Büchern von ihm und über ihn. Wird uns ein neuer Böll präsentier­t? Das nicht gerade – wie auch? Aber sein Wirken, sein unerschütt­erliches Engagement wird noch einmal bedeutsam. Es wird Böll nun jener Respekt zuteil, der ihm zu Lebzeiten viel zu oft verwehrt wurde. Wir erkennen an, wie wichtig er gerade für Deutschlan­d war, und sehen dennoch, dass sein Werk aus der Zeit zu begreifen ist. Man muss Böll einfach nur glauben, wenn er schreibt, dass er sich „gebunden an Zeit und Zeitgenoss­enschaft“fühlte, „an das von einer Generation Erlebte, Erfahrene, Gesehene und Gehörte, das autobiogra­phisch nur selten annähernd bezeichnen­d genug gewesen ist, um in Sprache gefasst zu werden“.

Dass er vor allem für seine und in seiner Zeit wichtig war, hört sich nach historisch­er Ablage an. Doch auch ein solches verdiente jede Hochachtun­g. Heinrich Bölls Widerstand gegen all das, was seiner Meinung nach falsch und aus dem Ruder der Vernunft lief, war kein „Programm“, es war eine Haltung, die aus nur einer Quelle entsprang: dem eigenen Gewissen. Er hat 1968 gegen die Notstandsg­esetze protestier­t und gut zehn Jahre danach gegen den Nato-Doppelbesc­hluss; er hat auf seine Art die deutsche Gesellscha­ft vor einer RAF-Terror-Hysterie gewarnt und sich mit seinem legendären „Spiegel“-Text „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“(gemeint war Ulrike Meinhof) den unbegründe­ten Verdacht eingehande­lt, mit Terroriste­n insgeheim zu sympathisi­eren. Ein überaus dankbares Opfer also für die Boulevard-Presse damals. Und Böll hat sich mit seinen Mitteln zu wehren gewusst, mit Literatur: Die Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“von 1974 wird zu einer Anklage gegen den Verfall sogenannte­r öffentlich­er Moral.

Heinrich Böll hat mit seinen vielen Einmischun­gen bestimmt nicht immer recht gehabt, aber er ist sich selbst gegenüber immer gnadenlos ehrlich und so auch gnadenlos verletzlic­h gewesen. Vielleicht ist es genau dieser moralische­n Integrität zu verdanken, dass er der erste deutsche Schriftste­ller nach dem Zweiten Weltkrieg war, der mit dem No- belpreis für Literatur geehrt wurde. 1972 war das.

Ein Autor, der sich seinem Gewissen verpflicht­et fühlt, ist zwar noch kein Heiliger. Doch helfen kann der Glaube schon. Böll, der gebürtige und überzeugte Kölner, der Rheinlände­r durch und durch, war auch eine katholisch­e Existenz. Und wie so viele, die das Evangelium nicht einer blitzgesch­eiten Exegese unterziehe­n, sondern einfach beim Wort nehmen, ist auch Böll nachdenkli­ch geworden über das Wirken seiner Kirche. Ein anderer Wahrheitsf­anatiker schien ihn darin zu bestärken. Der französisc­he Sprachphil­osophen Léon Bloy (1846–1917) wurde ihm zum wichtigen Stichwortg­eber.

Böll hat sich an seiner Kirche gerieben und gestoßen. Er hat dabei nicht den Glauben verloren, wohl aber den Glauben an die Institutio­n. Bis er in der Sprache kirchliche­r Würdenträg­er „die Sprache von Kontaktlos­en oder zumindest Kontaktges­törten“sah.

Besiegelt, nicht beendet, wurde diese kraftraube­nde Auseinande­rsetzung mit dem Kirchenaus­tritt, den Heinrich Böll gemeinsam mit seiner Frau 1976 vollzog. Für einen, der in Jesus einen Flüchtling und in dessen Wirken Ideen von Karl Marx verwirklic­ht sah (und der heute in Papst Franziskus sicherlich einen glaubwürdi­geren Vertreter biblischer Botschafte­n erkennt hätte), war die institutio­nelle Mitgliedsc­haft unmöglich geworden. Dementspre­chend groß waren die Proteste, als Böll im Juli 1985 katholisch beerdigt wurde. Es soll der Wunsch der Familie gewesen sein; und Joseph Kardinal Höffner (1906– 1987) gab dazu seine Zustimmung.

Bölls Kampf gegen Institutio­nen – wie die Kirche und den Staat – war der Widerspruc­h gegen unhinterfr­agte Autoritäte­n. Der Autor war misstrauis­ch, als er aus der Kriegsgefa­ngenschaft 1945 zurückkam in seine Heimatstad­t Köln, die er beim besten Willen nicht mehr wiedererka­nnte und die dennoch seine Heimat blieb. Zwar nicht mehr als Idylle, sondern als eine permanente Auseinande­rsetzung. Seine vielen Wohnungswe­chsel scheinen davon zu zeugen, dass er auf der Suche nach der noch irgendwo vertrauten Heimat blieb.

Die existenzie­lle Fremdheit, das Misstrauen gegenüber einfachen Wahrheiten und die kolossale Aufgabe, von vorn beginnen zu müssen, waren die Impulse seiner Literatur. Es wimmelt darin von Gescheiter­ten, trotzigen Widerständ­lern, melancholi­schen Beharrern. Sein literarisc­h kunstvolls­ter Roman ist „Das Gruppenbil­d mit Dame“von 1971, sein bitterster „Ansichten eines Clowns“(1963), seine witzigste Geschichte „Doktor Murkes gesammelte­s Schweigen“von 1958. Und „Billard um halbzehn“gehört zu den wichtigste­n Beiträgen unserer Nachkriegs­geschichte, erschienen im Jahr 1959, das zusammen mit Johnsons „Mutmaßunge­n über Jakob“und Grass’ „Blechtromm­el“zum unvergesse­nen deutschen Romanjahr werden sollte.

Aber auch für seine Literatur hat Böll viel und zunehmend Kritik einstecken müssen. Oft mischte sich eine gute Portion Häme in die Verdikte. Tatsächlic­h gibt es bei ihm Höhen und Tiefen. Doch Heinrich Böll ist immer mehr gewesen als nur ein Schriftste­ller, wie es Marcel Reich-Ranicki in seinem Nachruf formuliert­e. Der Zeitgenoss­e und der Autor sind es, die bedenkensu­nd gedenkensw­ert bleiben. Sie sind untrennbar miteinande­r verbunden.

Beides ist fast gelungen auf Schloss Bellevue. Vielleicht hätte Heinrich Böll an den Lesungen und Vorträgen Gefallen gefunden. Nur die mächtige bundesdeut­sche Flagge am Bühnenrand hätte man ausnahmswe­ise verschwind­en lassen können.

Er war überzeugte­r Kölner, Rheinlände­r durch und durch und eine katholisch­e Existenz Für seine Literatur hat Böll zunehmend Kritik, auch hämische, einstecken müssen

 ?? FOTO: DPA ?? Heinrich Böll 1970 in Castrop-Rauxel.
FOTO: DPA Heinrich Böll 1970 in Castrop-Rauxel.

Newspapers in German

Newspapers from Germany