Kathedrale der Musik
Die deutsche Orgelkultur ist Unesco-Weltkulturerbe. Grandiose Instrumente stehen aber auch in Frankreich. In Paris haben wir einige besucht – und gespielt.
dor, der sagenhafte 63 Jahre blieb. Seit 1985 – die Orgel besitzt offenbar die Kraft guten Klebstoffs – ist Daniel Roth im Amt. An den muss man sich halten, wenn man die Orgel nicht nur von unten, sondern hautnah erleben will: am Spieltisch, der einschüchternden Kommandobrücke mit zahllosen Knöpfen, Tasten, Pedalen, Hilfstritten. Dort sitzen zu dürfen – das ähnelt der Einladung eines Piloten, das Cockpit eines Passagierflugzeugs betreten zu dürfen.
Roth ist einer der bedeutendsten Organisten der Gegenwart, aber bescheiden und liebenswürdig wie kaum ein anderer. Auf die Mail aus Düsseldorf reagierte er in kürzester Zeit: Ob 12.40 Uhr für mich angenehm sei? Dann würde er den Termin in der Sakristei eintragen. Treffpunkt: unter der Orgel, wo sonst.
In Saint-Sulpice herrscht reger Besuch, viele wollen auf dem Fußboden nach Spuren aus der Verfilmung von „The Da Vinci Code – Sakrileg“suchen, die anderen bestaunen den historischen Orgelprospekt von François-Henri Clicquot, der alle Revolutionswirren überlebt hat und in den Cavaillé-Coll 1862 später (unter Erhaltung originaler Pfeifen) noch seine Wunderklänge eingebaut hat. Jetzt hat die Orgel 102 Register auf fünf Manualen und gilt als eine der schönsten der Welt.
Roth erscheint pünktlich und zückt erst einmal einen riesigen Schlüsselbund, denn die Orgel ist besser gesichert als Fort Knox. Zuerst führt Roth uns in einen kleinen Salon, in dem zahlreiche kleine Gemälde und Fotografien an legendäre musikalische Momente in SaintSulpice erinnern, etwa eine Begegnung Duprés mit Albert Schweitzer. Dann muss wieder eine dicke Tür aufgesperrt werden, bis wir in einem kleinen Räumchen zwischen Rückpositiv und Hauptwerk stehen, vor uns der Spieltisch, der von einer riesigen roten Samtdecke verhüllt ist. Roth zieht sie in aller Vorsicht beiseite, und dann zeigt das Cockpit sein Gesicht. Unendliche Verwirrung beim Gast, bis sich allmählich das System wie von selbst erklärt.
Roth improvisiert zunächst auf altfranzösische Weise, zeigt herrlichste Zungen, und dann lässt er aus dem Nichts die große g-MollFuge BWV 542 erklingen, um die Transparenz des Klangs vorzuführen. Tatsächlich, was anderswo mulmt, zeichnet hier präzise. Und dann fällt mir die Kinnlade herunter, weil Roth nicht so zierliche De- signer-Schühchen trägt, sondern abgelatschte Treter mit fetten Sohlen. Und die Fuge makellos spielt.
Dann darf ich selbst, Roth will registrieren. Ich fliege den Jumbo, erst vorsichtig, dann immer wagemutiger; im Improvisieren war ich schon immer besser als im Literaturspiel, Roth ist aber auch ein Animateur sondergleichen, er behandelt mich, den Zeitungsredakteur aus Düsseldorf, wie einen Kollegen. Er lotst mich durch die Orgel, wobei es hier kein Pedal für das Schwellwerk gibt, sondern eine Art stufenlosen Einführungstritt, der sehr direkt reagiert. Am Ende klingt alles, was die Orgel hergibt, ein saftiges Tutti, es ist aber nicht brüllend laut, sondern edel, majestätisch, eine verschwenderische Mischung aus Farben. Nein, nicht ich habe diese Orgel gespielt, sie hat mich gespielt. Man kann gut verstehen, dass Organisten sie für eine Droge halten, von der sie nie entwöhnt werden wollen.
Danach kann man keineswegs auf ähnlichem Niveau weitermachen, jetzt braucht man etwas Dezentes. Und schon spazieren wir über die Seine und finden nahe der Bastille die Kirche Saint-Antoine des Quinze-Vingts, in der sich eine überschaubare, aber trotzdem voluminöse Orgel von Cavaillé-Coll (drei Manuale, 47 Register) befindet. Der neoromanische Raum ist recht klein, was dem Tuttiklang der Orgel ordentlich Power verleiht. Eric Lebrun ist dort Organist, der Mann ist ebenso bescheiden wie Roth – und auch er ein Könner. Für das Label Naxos hat er sämtliche Orgelkompositionen von Franck, Alain und Duruflé auf CD eingespielt – und sogar die angeblich unspielbare Stelle am Ende von Alains „Litanies“bravourös gemeistert. Das Kuriose ist,
Die Grande Nation hat zahllose bedeutende Orgelkomponisten hervorgebracht Es ist ein Glücksgefühl sondergleichen, an dieser einzigartigen Orgel sitzen zu dürfen
dass sich diese Orgel deutlich anstrengender spielt als die in SaintSulpice; dort ist die sogenannte Barkermaschine eingebaut, eine Art pneumatisches Relais, das den Kraftaufwand zur Betätigung eines Tonventils reduziert.
Während sich in diesen beiden Kirchen die edlen Instrumente Cavaillé-Colls fast im Originalzustand befinden (wenngleich es immer wieder Überholungen gab), so ist die Cavaillé-Coll-Orgel in der Kathedrale Notre-Dame längst zu einer Art Concorde geworden: 115 Register zählt sie jetzt, und wenn Titularorganist Philippe Lefebvre alle 8000 Pfeifen entfesselt, dann sollte man sich auf der Orgelempore an-