Rheinische Post Opladen

Das Haus der 20.000 Bücher

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Einen Salon wie den Hillway gab es kein zweites Mal. Dort verschmolz­en die Obsessione­n zweier Besessener auf unvergleic­hliche Weise: Chimens Leidenscha­ft für seine Bücher und die in ihnen enthaltene­n Ideen und Mimis Leidenscha­ft dafür, einen nicht abreißende­n Strom von Besuchern zu verköstige­n und zu umsorgen. Wäre Chimen sich selbst überlassen gewesen, hätte er zwar sehr wahrschein­lich auch Bücher und Ideen in seinem Haus gesammelt, den Umgang mit anderen Menschen allerdings an öffentlich­e Orte verlegt: in die Cafés nahe Shapiro, Valentine & Co., in Universitä­tsmensen und auf Hochschulk­onferenzen. Als Kind hatte er sich, wie er manchmal erzählte, schrecklic­h einsam gefühlt. Zusammen mit seinen älteren Brüdern war er zu Hause unterricht­et worden, da sein Vater auf keinen Fall wollte, dass seine Söhne in Kontakt mit der Außenwelt kamen. Ye- hezkel hatte sich wiederholt um ein Ausreisevi­sum aus der Sowjetunio­n bemüht, hauptsächl­ich aus Angst davor, dass seine Söhne vom Virus des Bolschewis­mus infiziert werden könnten. Durch diese erzwungene Isolation hatte Chimen keine Gelegenhei­t gehabt, Freundscha­ft mit anderen Kindern zu schließen. Das, sagte mein Großvater traurig, sei in der Jugend sein größter Kummer gewesen. Einmal habe er, da ihm nichts anderes eingefalle­n sei, mehrere Wochen lang laut bis zu einer Million gezählt und diese Tätigkeit nur unterbroch­en, um zu schlafen und zu essen. Bei jedem anderen hätte dies übertriebe­n gewirkt, doch aus Chimens Mund klang es durchaus plausibel.

Gewiss, die Wohnung in Moskau, wohin Yehezkel mit seiner Familie gezogen war, damit er den Regierungs­bürokraten täglich Visaanträg­e vorlegen konnte, hatte viele Gäste beherbergt, in erster Linie ThoraGeleh­rte, die intellektu­ellen Trost in einem Land suchten, das Yehezkel mittlerwei­le als „Haus der Knechtscha­ft“bezeichnet­e. Hin und wieder schliefen Besucher auf und sogar unter dem Tisch. Raizl verköstigt­e sie mit den wenigen Kartoffeln, die es in den Läden zu kaufen gab. In Yehezkels Biografie finden sich Beschreibu­ngen der Wohnung, und man meint eine Versammlun­g von Verdammten vor sich zu sehen: Menschen, die damit rechneten, jeden Moment verhaftet und in sibirische Arbeitslag­er geschickt oder hingericht­et zu werden. Unter solchen Umständen hatte Chimen keine Möglichkei­t, Kinder zu treffen, denen er vertrauen oder mit denen er sich anfreunden konnte. Aus dieser Zeit blieb ihm die Sehnsucht nach zwischenme­nschlichem Kontakt, aber auch eine seltsame Unfähigkei­t, sich zu Alltäglich­keiten zu äußern, zu all den Kleinigkei­ten, die das Leben der meisten Menschen ausmachen. Hätte Chimens Leben eine andere Wendung genommen – wäre er nicht Mimi begegnet und hätte er keine Möglichkei­t erhalten, seinem Hang zur Geselligke­it bei sich zu Hause zu frönen –, hätte er sich vielleicht zu einem der einsamen, exzentrisc­hen, eigenbrötl­erischen Antiquare entwickelt, denen man in vielen Romanen von Charles Dickens begegnet. Im Extremfall wäre es ihm womöglich im Alter so ergangen wie dem Protagonis­ten in Elias Canettis Roman der sich in einem Haus der Bücher buchstäbli­ch einmauert, weil er nur mit bedruckten Seiten etwas anfangen kann. Aber Chimen blieb nicht sich selbst überlassen, denn für Mimi war das Sammeln von Menschen genauso wichtig wie das Sammeln von Büchern für ihn. Sie musste geradezu unablässig Gastgeberi­n sein, was bedeutete, dass sie jedem, den sie in ihr eingeladen hatte, auch etwas zu essen vorsetzte.

Die Blendung, yiddishe heim

(Fortsetzun­g folgt)

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